Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?


Скачать книгу

zu ermöglichen, mit dem Ziel, die Gesellschaft zu stabilisieren und die Macht der Bolschewiki zu konsolidieren.

      Der Überblick über Lenins Äusserungen zum Problem von Krieg oder Frieden zwischen Kommunismus und Kapitalismus zeigt, dass Lenin diesbezüglich keine einheitliche, auf der Theorie des historischen Materialismus basierende Doktrin entwickelte. Es war vielmehr so, dass er nach seiner Machtergreifung in Russland die Frage, ob es zwischen dem Sowjetstaat und den kapitalistischen Staaten zum Krieg kommen müsse, stets aufgrund der momentanen inneren und äusseren Lage des Landes beziehungsweise in Übereinstimmung mit den Zielen seiner jeweiligen Politik beantwortete.112

      1.3.1.3 Die Anpassung des marxistisch-leninistischen Kriegsverständnisses an die Bedürfnisse des Sowjetstaates durch Stalin

      Der Tod Lenins zu Beginn des Jahres 1924 fiel mit der allgemeinen Erkenntnis zusammen, dass es in absehbarer Zukunft in keinem anderen Land zu einer proletarischen Revolution kommen und die Sowjetunion somit bis auf weiteres der einzige sozialistische Staat bleiben würde. Lenins Nachfolger Iosif Vissarionovič Stalin sah sich daher in erster Linie mit der Aufgabe konfrontiert, das Überleben des damals noch relativ schwachen und instabilen Sowjetstaates inmitten kapitalistischer Staaten sicherzustellen. Folge davon war, dass er die marxistisch-leninistischen Lehrsätze auf die innen- und aussenpolitischen Ziele und Möglichkeiten der UdSSR abstimmen musste. Inwiefern die marxistisch-leninistische Kriegsdoktrin von dieser Anpassung an die realen Umstände betroffen war, soll im Folgenden aufgezeigt werden.

      (1) Hinsichtlich der Ursache von Krieg hatte Stalin keine anderen Vorstellungen als seine Vorgänger. Die grundlegenden Aussagen von Marx und Engels zu diesem Punkt blieben voll und ganz in Kraft.

      (2) Unverändert blieben auch die bislang gültigen Ansichten über die Funktion von Krieg: Stalin ging von dem Kriegsbegriff Lenins und damit von der Clausewitz-Formel aus.113

      (3) Ebenfalls keine Abweichung von der bisherigen Linie gab es bei der Einschätzung der Wirkung von Krieg: Auch Stalin betonte den Wert von Krieg als Instrument zur Begünstigung der Revolution. Wie seine Vorgänger schrieb er dabei nicht nur den «normalen» Kriegen zwischen unabhängigen, souveränen Staaten revolutionäre Wirkung zu, sondern überhaupt allen Arten von Krieg, das heisst auch den Bürgerkriegen, den «nationalen Befreiungskriegen», und den «revolutionären Kriegen» sowieso.114 Die Theorie, dass Krieg den revolutionären Prozess in Richtung Kommunismus voranbringe, hielt Stalin endgültig dadurch für bestätigt, dass im Zuge des Zweiten Weltkriegs und von Kämpfen während der Entkolonialisierung in zahlreichen Staaten der Sozialismus eingeführt worden war.

      (4) Was Stalins Einstellung zum Krieg angeht, so lag diese grundsätzlich ganz in der Tradition seiner Vorgänger. Auch Stalin lehnte Krieg nicht prinzipiell ab: «[…] sind wir doch nicht gegen jeglichen Krieg. Wir sind gegen den imperialistischen Krieg als konterrevolutionären Krieg. Aber wir sind für den Befreiungskrieg, den antiimperialistischen, revolutionären Krieg, ungeachtet der Tatsache, dass ein solcher Krieg bekanntlich nicht frei ist von den ‹Schrecken des Blutvergiessens›, sondern diese sogar reichlich aufweist.»115

      Stalin unterschied wie Lenin zwischen guten und schlechten Kriegen. Er verwendete dafür jedoch nicht mehr die ganz gleichen Bezeichnungen wie Lenin: Erstere nannte er «progressiv» oder «gerecht», Letztere «reaktionär» oder «ungerecht».116

      «Ungerechte» Kriege waren gemäss einer Kriegsklassifizierung aus dem Jahr 1928 «Kriege der imperialistischen Staaten untereinander», «Kriege der imperialistischen Gegenrevolution gegen die proletarische Revolution beziehungsweise gegen Länder, in denen der Sozialismus aufgebaut wird» und «Unterdrückungskriege der Imperialisten» gegen «Kolonialländer».117 Zehn Jahre später definierte Stalin den «ungerechten» Krieg kurz als «Eroberungskrieg, der das Ziel hat, fremde Länder zu erobern, fremde Völker zu versklaven».118

      Als «gerechten» Krieg bezeichnete Stalin demgegenüber einen «Befreiungskrieg […], der das Ziel hat, entweder das Volk gegen einen äusseren Überfall und gegen Versuche zu seiner Versklavung zu verteidigen, oder das Ziel der Befreiung des Volkes von der Sklaverei des Kapitalismus, oder endlich das Ziel der Befreiung der Kolonien und abhängigen Länder vom Joche der Imperialisten».119

Abb. 11: Lenin im Alltag. (UdSSR, Silva-Verlag)

      Abb. 11: Lenin im Alltag. (UdSSR, Silva-Verlag)

Abb. 12: Iosif Vissarionovc Stalin grüsst am 1. Mai 1951 von der Tribüne des Lenin-Mausoleums die Teilnehmer der Maidemonstration. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1951)

      Abb. 12: Iosif Vissarionovč Stalin grüsst am 1. Mai 1951 von der Tribüne des Lenin-Mausoleums die Teilnehmer der Maidemonstration. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1951)

      In dieser Aufzählung der «gerechten» Kriege fehlt interessanterweise der offensive «revolutionäre Krieg» der Sowjetunion gegen die kapitalistischen Länder.120 Wie lässt sich diese Tatsache erklären? Vorauszuschicken ist, dass das obige Zitat keinen Einzelfall darstellt, sondern insbesondere für die spätere Stalin-Zeit typisch ist. Eine von Peter H. Vigor, dem Autor des Buches «The Soviet View of War. Peace and Neutrality» durchgeführte Gesamtanalyse der offiziellen Äusserungen und Publikationen während der Herrschaft Stalins (1924–1953) hat nämlich ergeben, dass die Erwähnung des offensiven «revolutionären Krieges» immer seltener wurde und schliesslich ganz unterblieb.121 Bedeutet dies, dass Stalin im Unterschied zu Lenin es grundsätzlich ablehnte, die Revolution mit Waffengewalt zu verbreiten? Keineswegs; auch Stalin hiess einen Krieg zum Zwecke der «Sowjetisierung» anderer Länder eigentlich stets gut. Warum dann trotzdem die Nichterwähnung dieser Kriegsart? Der Grund dafür war stets politisch-taktischer Natur: Nur wenige Monate nach Lenins Tod führte Stalin aus vornehmlich innenpolitischen Gründen122 die Doktrin vom «Sozialismus in einem Land» ein. Diese Theorie besagte, dass die sozialistische Gesellschaft in der Sowjetunion auch ohne erfolgreiche Weltrevolution erreichbar sei.123 Damit war implizit die Aussage verbunden, ein offensiver «revolutionärer Krieg» der Sowjetunion gegen die kapitalistische Staatenwelt sei nicht unbedingt notwendig. Die Doktrin vom «Sozialismus in einem Land» bildete somit die Verfestigung des in der letzten Phase der Herrschaft Lenins eingeschlagenen Richtungswechsels weg von der These von der Notwendigkeit eines offensiven «revolutionären Krieges». Wie bereits angetönt, war dieser Richtungswechsel rein situationsbedingt. Er wäre, falls sich die weltpolitischen Realitäten zu Gunsten der Sowjetunion geändert hätten, wohl wieder rückgängig gemacht worden. Bis zum Zweiten Weltkrieg änderten sich die weltpolitischen Realitäten jedoch nicht: Die Sowjetunion blieb – zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung – ein einsamer sozialistischer Staat in einer von kapitalistischen Mächten dominierten Welt und als solcher zu schwach, um einen offensiven «revolutionären Krieg» unternehmen zu können.124 Bis Ende der 1920er-Jahre griff Stalin die Idee des offensiven «revolutionären Krieges» zwar noch vereinzelt auf. Doch blieben seine diesbezüglichen Äusserungen stets relativ allgemein und unverbindlich; von der effektiven Umsetzung der Idee – nämlich einer sowjetischen Aggression gegen den Westen – sprach er nie. Ab Anfang der 1930er-Jahre unterliess er die Erwähnung des offensiven «revolutionären Krieges» dann vollständig beziehungsweise behauptete gar, die Sowjetunion habe niemals «Pläne und Absichten in Bezug auf die Weltrevolution» gehabt und lehne den «Export der Revolution» ab.125 Der Grund für diese plötzlich sehr defensive Haltung war zweifellos die zunehmende Angst vor einem Angriff Nazi-Deutschlands. Die offizielle Abkehr von der Doktrin des offensiven «revolutionären Krieges» aufgrund des Bestrebens Stalins, die UdSSR gegenüber der Weltöffentlichkeit als friedliches Land darzustellen, fand nach dem Zweiten Weltkrieg eine Fortsetzung – und zwar unter folgenden Umständen: In den Jahren nach dem Krieg gelang es der Sowjetunion, ihren Macht- beziehungsweise Einflussbereich zuerst auf Ost- und Mitteleuropa und anschliessend auf Asien auszudehnen, was im Westen als aggressiver Akt wahrgenommen wurde. Gleichzeitig war die Sowjetunion militärisch relativ schwach. Stalin fürchtete deshalb