Ja, man kann sogar etwas überspitzt sagen, dass bezaubernde Orte wie die St. Petersinsel letztlich nur Mittel zum Zweck waren; im Vordergrund standen nicht Landschaft oder geschichtliche Ereignisse und Spuren, sondern die durch die Natur ausgelösten Gefühle. Oder anders gesagt: Meistens verschmolzen Naturbeschreibung und Empfindungsprotokoll. Die Empfindsamkeit, das ist eine literarische Epoche, aber auch ein von der Literatur inspiriertes Lebensgefühl. Literatur und Leben, Lektüre und Wirklichkeit waren untrennbar miteinander verbunden, so sehr, dass Unterscheidungen mitunter schwierig wurden (das bekannteste Beispiel dazu ist immer noch das Werther-Syndrom: Nach dem Vorbild der von Goethe geschaffenen literarischen Figur in Die Leiden des jungen Werther begingen damals mehrere junge Männer Suizid – Identifikation mit der Welt im Buch bis in den Tod hinein). Das empfindsame Naturerlebnis konnte aber auch zum Zwang werden: Nachgerade peinlich wurde es für die Reisenden, wenn sie angesichts vielfach «erprobter» Naturschönheiten nicht den Schauder und das Zittern erfuhren, von dem alle anderen vor ihnen schon berichtet hatten. Wilhelm von Humboldt erging es so beim Staubbachfall in Lauterbrunnen. Am guten Willen lag es nicht, er versuchte und versuchte es immer wieder («Denn ich wollt doch gern ein nicht ganz gefühlloser Mensch sein»), aber das empfindsame Gefühl wollte sich partout nicht einstellen …
Jens Emmanuel Baggesen (1764–1826) auf einem Porträt von 1807.
Baggesen also, der Mann, der den Boden der St. Petersinsel küsste, als wäre es heiliger Grund (und das war sie ja für ihn auch), war kein Spinner, kein komischer Typ, nein, er war ganz einfach ein Kind seiner Epoche. Es ist dennoch höchst erfreulich zu lesen, dass seine Schwärmereien wenige Wochen später auf etwas ganz anderes ausgerichtet waren als auf die verblassenden Spuren eines vor mehr als zwanzig Jahren verstorbenen Philosophen. Die St. Petersinsel war nur eine Station auf einer ausgedehnten Reise durch die Schweiz. Und wenig später hatte er sein Herz an Sophie von Haller verloren, seine reizende Reisegefährtin bei einer Überfahrt von Unterseen nach Thun. Erst bei der Ankunft in Thun wurde klar, dass die junge Dame die Enkelin des berühmten Naturforschers und Dichters Albrecht von Haller war. Das steigerte seine Begeisterung für das ebenso hübsche wie profund gebildete Geschöpf noch einmal. In Bern besuchte Baggesen das Haus der Hallers und hielt um Sophies Hand an. Schon im März 1790 wurde geheiratet.
Die beiden führten eine überaus glückliche dänisch-schweizerische Ehe. Eine allzu kurze, denn schon 1797 starb Sophie an einem Lungenleiden. Ihrem Gatten hinterliess sie die zwei gemeinsamen kleinen Söhne. Baggesen selbst pendelte künftig zwischen der Schweiz, Norddeutschland, Dänemark und Paris, heiratete noch einmal, lebte für den Rest seines Lebens kränkelnd und in bescheidenen Verhältnissen, trotz einer extra für ihn eingerichteten Professur für dänische Sprache und Literatur an der Universität Kiel. Seine Liebe zur Schweiz, die ihn selbstredend immer auch an die Zeit mit Sophie erinnerte, hat er in dem heute vergessenen Epos Parthenaïs oder die Alpenreise (1803) ausgedrückt, inspiriert von einer Wanderung, die er im Juli 1794 mit seiner Frau und zwei ihrer Freundinnen ins Berner Oberland unternommen hatte: «Ich bin wieder auf dem Sprunge, eine Reise zu machen. Sophie packt zusammen, wir gehen nach Bern, um da unsere liebe Charlotte und Freundin Gritli G. abzuholen zu einer Reise nach Hasli, nach Grindelwald und Lauterbrunnen», kündigte Baggesen die Reise einem Freund an. Literarisch wurde diese Reise dann so umgesetzt, wobei die Hauptfiguren Nordfrank und Myris nach dem realen Liebespaar Jens und Sophie geformt sind: «Drei junge Schwestern machen sich von Bern aus mit ihrem Führer, dem Poeten Nordfrank, auf zu einer Reise zum Fusse der Jungfrau. Hermes und Amor – die griechischen Götter haben, von den Türken aus dem Olymp vertrieben, ihren Wohnsitz im Berner Oberland genommen – trachten danach, das Unternehmen zu verhindern und legen den Wandernden mannigfaltige Hindernisse in den Weg. […] Die Reisegesellschaft erreicht schliesslich so unbeschadet wie unberührt ihr Ziel, wo sie, nachdem Nordfrank noch allein den Eiger bestiegen und dort die Dichterweihe empfangen hat, gemeinsam mit den unterdessen ebenfalls eingetroffenen Eltern die Verlobung Nordfranks mit Myris feiern» (Adrian Aebi). Die ganze Handlung vollzieht sich vor dem Panorama der Berner Alpen, bekannte Sehenswürdigkeiten und Naturphänomene wie der Staubbach im Lauterbrunnental, das Alpenglühen oder das Knarren des Gletschereises werden effektvoll eingebaut.
Man kann nach alledem zum Schluss kommen, dass Baggesen in der Schweiz durch und durch zum empfindsamen Reisenden wurde – und beinahe ist man versucht, ihn sich als diesen schwärmerischen Jüngling ein für alle Mal einzuprägen; dass man ihn aber nicht nur mit diesem Etikett versehen sollte, zeigt ein Blick in sein berühmtestes Werk, die Reiseerzählung Das Labyrinth, die die Strecke von Kopenhagen bis Basel im Jahr 1789 schildert, also exakt jene Tage und Wochen vor seinem Besuch auf der St. Petersinsel. Diese ganze Reise durch Deutschland stand für Baggesen unter dem Eindruck der soeben ausgebrochenen Französischen Revolution – euphorisch begrüsste er den Sturm auf die Bastille, als ihn die Nachricht davon im hessischen Friedberg erreichte. Die gesamte weitere Reise stand fortan im Zeichen der Revolution. Dass Baggesen nicht nur ein nostalgisches Auge hatte, sondern auch eines für die Nöte seiner Zeit, das beweist seine berühmt gewordene, hochgradig sozialkritische Beschreibung des Frankfurter Judenviertels, die in fassungslosen rhetorischen Fragen gipfelt: «Ist es möglich, dass noch in unserem Zeitalter eine Nation, deren physische und moralische Existenz allen anderen gleich ist, als politisch nicht existent angesehen wird, für immer zur Landflucht bestimmt? Ist es möglich, dass man sich darüber einig sein kann, eine Gruppe von Erdenbürgern abzulehnen aufgrund ihrer besonderen Religion, dem vornehmsten aller Rechte, dem natürlichsten aller Besitztümer?»
Auszüge aus Jens Immanuel Baggesens «Rousseau’s Insel oder St. Peter im Bielersee», 1795
Von einer der höchsten Spitzen des Jura über das Thal Fraimvilliers hin, auf dem Birs- und Susa-Wege von Basel nach Biel, übersieht man die Gegend, worin die von einem spiegelhellen See umflossene St. Peters Insel liegt. Die lachende Herrlichkeit, in welcher sich dieses kleine Eiland im vollen Sonnenglanze darstellt, geht über alle Beschreibung. Ein Reichthum von Reitzen entfaltet sich dem erstaunten Auge, der mit verdoppeltem Zauber den Wanderer überwältigt, wenn er von dem engen, von steilen Klippen eingeschlossenen Labyrinthe aus dem Münsterthale ersteigt – und plötzlich mit einem Blick ein Amfitheater von ungefähr 80 Meilen im Umfange übersieht. Welche Mannigfaltigkeit! welche Abwechselung! Fruchtbare, gartenmässig angebaute Gefilde, von der Aar, Emme und Zihl durchströmt! Solothurn, Nidau, Biel, zahlreiche Dörfer, Meyerhöfe und einzelne Bauerstellen, hingestreut unter finstere Wälder auf den hellgrünen Wiesen und goldenen Kornfeldern; – des Bielersees reiner, glimmernder Krystal, in dem sich die mit Reben bekränzten Küsten spiegeln; – Berge, die hinter einander immer höher und höher sich gegen die Füsse der Alpen zu aufthürmen; – die Perspektive in der ganzen weitgestreckten Landschaft, und die wollüstige Weichheit, welche die alles in einander verschmelzende Entfernung ihr giebt; – im fernsten Hintergrunde endlich der majestätische Alpenbogen, von den Schneebergen in Uri und Unterwalden bis zu den Savoyischen bey Genf, – und mitten im Busen dieser Natur-Schönheit das klein Pathmos, wo J. J. Rousseau in stillen himmlischen Träumen das Weltgetümmel vergass! – Wehe dem Herzen, das bey einem solchen Anblick nicht wenigstens für Einen Augenblick allen seinen Kummer vergisst! Die Wunde, in welche die Natur mit der reizendsten jungfräulichen Hand vergebens Balsam giesst, ist unheilbar.
Ich hatte mein Auge im Anschauen dieser Gegend berauscht, – und befand mich nun mitten in ihr, als wenn ich vom Olymp nach Tempe hinabgeschwebt wäre. So zufrieden ich auch über alles war, was ich neulich überschauet hatte, über alles, was mich da umgab: so brannte mein Verlangen doch ungeduldig nach dem Allerheiligsten, nach der letzten Gnadenbezeugung der Natur in Rousseaus winkendem Paradiese.
Es war der schönste Tag, den man sich denken kann. Einzelne hin und her flatternde Wolken spielten Verstecken mit den Bergspitzen, – einzelne Sonnenstrahlen mit den leicht von einem leisen Winde hingetriebenen Wellen; – der Himmel schien unter Weinen und Lachen zu wählen, und die Erde wartete still auf die Entscheidung.
Von Biel ab spazierten wir durch die angenehme neue Allee am westlichen Arm des Susaflusses, ungefähr eine halbe viertel Meile von der Stadt, zu der Brücke, die an einem Weinberge liegt, wo sich die Susa in den See ergiesst. – Hier stiegen wir in