Barbara Piatti

Von Casanova bis Churchill


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wird sie Ihnen einen Louis Trinkgeld geben; aber wenn Sie den nicht mir geben, plaudere ich die ganze Geschichte aus.» – «Da, du Spitzbube, da hast du ihn schon im voraus; lass mir schnell das Abendessen auftragen.»

      Dies, lieber Leser, sind Freuden, die ich mir in meinem Alter nicht mehr verschaffen kann, die ich aber noch in der Erinnerung geniessen darf. Gewisse Unmenschen predigen die Reue, und närrische Philosophen erklären unsere Freuden für nichts als Eitelkeiten.

      Ein barmherziger Traum liess mich die Nacht mit meiner Amazone verbringen, ein künstlicher, aber makelloser Genuss.

      Quelle: Giacomo Casanova Chevalier de Seingalt: Geschichte meines Lebens, Hrsg. und kommentiert von Günter Albrecht in Zusammenarbeit mit Barbara Albrecht. Band 6, München: Verlag C. H. Beck 1985, S. 108–116.

      Editorische Notiz: Casanovas Muttersprache war Italienisch, aber seine Schriften verfasste er auf Französisch, der bevorzugten Sprache der damaligen gebildeten Schichten. Die 3700-seitige Handschrift seiner Memoiren vermachte er kurz vor seinem Tod seinem Neffen. 1821 wurden sie an den Leipziger Verleger Friedrich Arnold Brockhaus verkauft. Der Text erschien im gleichen Jahr erstmals in gedruckter Form, allerdings stark zensiert und entstellt. Dennoch landete er sofort auf dem päpstlichen Index der verbotenen Bücher. Jahrzehntelang wurden nur stark bereinigte Fassungen veröffentlicht, die dann in Raubdrucken und eigenwilligen Übersetzungen erschienen. Die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg überstand das Manuskript unbeschadet (siehe Einleitung, Seite 12). Erst 1960 erschien die erste vollständige Ausgabe, eine erste englische Übersetzung 1966, gerade rechtzeitig im Umfeld der sexuellen Revolution.

      2010 hat die Bibliothèque Nationale in Paris das Manuskript für die sagenhafte Summe von 7,5 Millionen Euro erworben – noch nie wurde ein höherer Preis für eine Handschrift bezahlt; die Lebenserinnerungen sind, wie Fachleute und Kuratoren attestieren, in einem wunderbaren und lebendigen Französisch verfasst. Und Blätter und Tinte sind so gut erhalten, dass es so aussieht, als hätte Casanova erst gestern das Löschpapier drauf gepresst. 2012 bis 2015 ist eine dreibändige kritische Gallimard-Ausgabe erschienen, die erstmals den ganzen, den unverfälschten Casanova zugänglich macht, wissenschaftlich kommentiert.

      Jens

      Immanuel

      Baggesen

      Bad Pyrmont —

      Basel —

      Biel —

      St. Petersinsel —

      Solothurn —

      Aarau —

      Zürich —

      Schaffhausen —

      Luzern —

      Gotthard —

      Furka —

      Grimsel —

      Grindelwald —

      Lauterbrunnen —

      Thun —

      Bern

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      Die St. Petersinsel von Norden – Ziel literarischer Pilgerfahrten auf den Spuren Jean-Jacques Rousseaus. Gouachemalerei von Johann Jakob Hartmann (1811).

      Wir stiegen ans Land. Meine Knie zitterten. Es war mir zu Muthe wie einem furchtsamen Liebhaber, der zum erstenmahl sich der Geliebten nähert […]. Ich stieg ans Land, oder eigentlich ich sank darauf hin; denn am ersten Stein kniete ich unwillkührlich, und küsste die Erde.

      Jens Immanuel Baggesen (1789)

      Wie kommt es dazu, dass ein erwachsener Mann weinend in die Knie sinkt und den Boden einer der wenigen Schweizer Inseln, namentlich der St. Petersinsel, küsst? Er ist nicht der Einzige, der dem idyllischen Eiland einen tränenreichen Besuch abstattet, vor und nach ihm sind Dutzende von Zeugnissen überliefert, von Schwindel wird berichtet, von heftigem Herzklopfen, von Umarmungen im gemeinsamen Gefühlstaumel. Das Geheimnis hinter diesem (aus heutiger Sicht) eher merkwürdigen Verhalten ist verbunden mit Jean-Jacques Rousseau. Um es kurz zu machen: Rousseau war einer der Superstars des 18. Jahrhunderts, vergleichbar mit Goethe; wer konnte, verschlang seine Schriften, die literarischen und die philosophischen, man nahm aber auch äusserst regen Anteil an seinem Schicksal, seinem Privatleben; von einigen seiner Anhänger wurde er regelrecht «gestalkt», würde man im heutigen Sprachgebrauch sagen. 1765 verbrachte er als politischer Flüchtling knapp zwei Monate auf der St. Petersinsel (verfolgt wurde er aufgrund seiner Publikationen, in denen er unter anderem unerhört neue Ideen zur Religionsfreiheit, zum Volk als oberstem Souverän, zu einer kindgerechten Erziehung formulierte). Im Rückblick schilderte er diese Herbstwochen mitten im Bielersee als die glücklichste Zeit seines Lebens, als einen Aufenthalt im Paradies, den er mit Botanisieren, Schreiben, Spazieren, Bootfahren verbrachte, nur manchmal unterbrochen durch eine Beteiligung an der Apfelernte oder einem Winzerfest oben auf der Inselkuppe: «Man hat mir einen kaum zwei Monate währenden Aufenthalt auf dieser Insel gegönnt. Ich aber hätte ohne einen Augenblick der Langeweile zwei Jahre, zwei Jahrhunderte und die ganze Ewigkeit auf ihr verbracht.»

      Seine Schilderungen, in den Confessions (Bekenntnisse) und in den Rêveries d’un promeneur solitaire (Träumereien eines einsamen Spaziergängers), nach seinem Tod in den 1780er-Jahren erschienen, lösten augenblicklich einen Besucheransturm auf die St. Petersinsel aus. Und Jens Immanuel Baggesen, der Däne, der in seiner Muttersprache, aber auch auf Deutsch schrieb, ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie eine solche Rousseau-Pilgerfahrt ablief. Als der Dichter 1789 auf der Insel ankam, war diese noch vollkommen von Wasser umgeben (erst die Juragewässerkorrektur von 1868 bis 1891 liess den Seespiegel sinken, und aus der einstigen Insel wurde, durch neu aufgetauchtes Erdreich, eine Halbinsel mit einer natürlichen Landbrücke nach Erlach).

      Fast alle Schiffe landeten damals an der sogenannten Südländte der Insel, schräg gegenüber von Lüscherz. Ein kleiner Kanal formte dort einen schützenden Hafen. Heute ist dieser Wasserweg zugeschüttet, nur die ihn einst säumenden Pappeln sind stehen geblieben und deuten den ehemaligen Verlauf an. Nicht nur Baggesen, auch viele andere Reisende berichten, dass die ersten Schritte auf diesem «heiligen Grund» sie erschütterten. In der Regel besuchte man zuerst das Rousseau-Zimmer, zwei bescheidene Kammern im Pächterhaus, zu Rousseaus Zeiten ein Bauernhof, vormals ein Benediktinerkloster. Einer der berühmtesten Schauspieler und Theatermänner der Goethe-Zeit, August Wilhelm Iffland, rief beim Betreten aus: «Hier wohnte er also, – hier dachte – hier fühlte – hier litt er!!» Dann stiegen die Fans die Anhöhe hinauf bis zum barocken Pavillon, von dem aus sternförmig Wege in den Wald und zu steinernen Lese- und Ruhebänkchen führten. Zur Ausrüstung der Reisenden, fast wichtiger als Proviant oder Kleidung, gehörten die Bücher von Rousseau. Diese sollten an Ort und Stelle gelesen werden, still und leise für sich oder einander gegenseitig daraus rezitierend: Karl Spazier, der mit Baggesen bis Basel reiste und sich dort von ihm trennte, schreibt in seinen Wanderungen durch die Schweiz: «Ich irrte den ganzen Tag umher, sass zuweilen am Ufer, den Blick zum See hingekehrt, auf welchem Nachen hin und her schifften: ich las, mit welcher erhöhten Teilnehmung lässt sich leicht denken, in Rousseaus Bekenntnissen […].» Im Pavillon auf der Insel-Anhöhe hinterliess man Sinnsprüche und Gedichte, Namen und Datum – die hölzernen Wände und Bänke waren über und über bedeckt mit den Schriftzügen von Rousseau-Verehrern und -Verehrerinnen. Dank dem steigenden Ruhm der St. Petersinsel entwickelte sich übrigens eine richtige kleine Tourismusindustrie am Bielersee: Einheimische Bauern und Fischer boten ihre Dienste als Ruderer an; Künstler schufen zahlreiche Ansichten, und diese Veduten, vervielfältigt als Stiche oder Aquatinten, dienten als Souvenirs, als Vorläufer der Postkarten.

      Am Originaltext von Baggesen lässt sich leicht erkennen, worum es den Reisenden ging: um totale Immersion, Eintauchen in die Welt von Rousseau – und idealerweise um eine Begegnung mit seinem Geist oder Schatten.