Als Mendelssohn die Wanderung im Jahr 1831 unternahm, war das Gasthaus auf dem Gipfel noch im Bau, und er musste auf Stroh in einer Nebenhütte übernachten. Wagner hingegen fand 1853 den vollen Komfort eines Hotels auf fast 2700 Metern vor, mitsamt weiss eingedeckten Tischen und Silberbesteck. Und beinahe wäre ihnen 1918 Walter Benjamin gefolgt – in Begleitung seines Freundes Gershom Scholem. Aus unbekannten Gründen ist diese Wanderung zwar brieflich genau geplant, dann aber doch nicht durchgeführt worden.
Leo Tolstoi und Gustave Flaubert wären sich in ihrem Desinteresse für die Rigi und überhaupt für Aussichtspunkte einig gewesen. Franz Liszt und Theodor Fontane stiegen beide im Hotel Storchen in Basel ab – mit vierzig Jahren Abstand, 1835 und 1875. Liszt reiste mit Marie d’Agoult über den Walensee, in einem Ruderboot, denn das erste Dampfschiff wurde auf diesem Gewässer erst zwei Jahre später eingesetzt. 1841 reiste dann aber prompt Friedrich Engels mit dem Dampfboot auf exakt derselben Route. Giacomo Casanova, Karl Friedrich Schinkel und James Fenimore Cooper, alle drei vergnügten und reinigten sich im Berner Bad im Mattequartier an der Aare. Casanova leistete sich ein Upgrade, Baden plus käufliche Liebesdienste, Schinkel war über ein eben solches Angebot masslos empört («Entsetzlich war es aber, dass wir beim Eintritt ins Bad gefragt wurden, ob wir ein bain garni, das heisst mit einem Frauenzimmer, verlangten […]»), Cooper hingegen berichtet ganz erfreut davon: «Ich zahlte zwanzig Cents für ein warmes Bad unter einer Leinwandbedachung, mit Seife, warmen Tüchern, warmem Badeanzug, alles nach Wunsch. […] Das ist die wohlfeilste Art zu baden, die mir jemals vorgekommen ist.» Nur zehn Jahre trennen August Strindberg und Winston Churchill voneinander – der Schwede bezog mit seiner Familie 1884 eine Wohnung in Ouchy, der Brite wäre als Neunzehnjähriger, 1894, beinahe bei einer Bootstour ertrunken, die ebendort startete.
Im glutheissen Jahrhundertsommer 1911, in dem es zwischen April und Oktober kaum regnete, waren J. R. R. Tolkien, Franz Kafka und Walter Benjamin gleichzeitig in der Schweiz unterwegs. Es ist nicht anzunehmen, dass sie sich irgendwo begegnet sind, obwohl ihre Routen sich teilweise kreuzten.
Es gibt sogar Verknüpfungen ausserhalb der Schweiz: Die US-amerikanische Journalistin und Kunstkritikerin Elizabeth Robins Pennell, die die Schweiz 1898 durchquerte, schrieb eine Biografie über Mary Wollstonecraft, Mutter von Mary Godwin, der Reisenden aus dem Jahr 1814. Und Leni Riefenstahl, deren Schweizer Episode aufs Engste mit dem Piz Palü verbunden ist, war ebenso wie Richard Strauss (seine Reise führte ihn 1893 auf den Gornergrat beim Matterhorn) präsent bei den Olympischen Spiele 1936 in Berlin – sie als Hitlers Regisseurin, er als Komponist und Dirigent der Eröffnungshymne.
Die Reihe der Beispiele liesse sich noch lange fortsetzen. Überraschend sind auch diese Trios: Was verbindet John Ruskin, Leo Tolstoi und August Strindberg? Die Verehrung für die Sprache und die Erzählkunst von Jeremias Gotthelf. Was Elizabeth Main, Walter Benjamin und Leni Riefenstahl? Die Begeisterung für Giovanni Segantini. Was Heinrich von Kleist, Hans Christian Andersen, Leo Tolstoi? Der Ekel vor der Grossstadt Paris, das Gefühl, dort unterzugehen – und die Idee, dem Moloch den Rücken zu kehren und in die nahe Schweiz zu reisen. Tolstoi hatte zudem eine öffentliche Hinrichtung mit der Guillotine erlebt, die ihn bis ins Mark erschütterte. «Ich lebte 1 ½ Monate in Sodom, und in meiner Seele hat sich schon viel Unrat gesammelt, sowohl zwei Strassenmädchen wie die Guillotine und der Müssiggang und die Gemeinheit.» Auch für Franz Liszt und Marie d’Agoult beginnt die Reise in die Schweiz mit der Flucht aus Paris. Bei ihnen hat das aber andere Gründe, es ist eine Flucht aus Verhältnissen und Konventionen, die ihnen nicht erlaubt hätten, in wilder Ehe zusammenzuleben. Auf einer Reise durch die Schweiz und später in Genf konnten sie es.
Dieses Schweizer-Reisen-Panorama spannt sich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert auf. Tourismusgeschichtlich ergibt das absolut Sinn: Casanova hatte noch kein Auge für die Landschaft, er steht ganz am Anfang der Epoche, die Landschaft, vor allem die alpine und voralpine, erst im grossen Stil als visuellen Genuss entdecken wird; Winston Churchills Landschaftsmalerei basiert hingegen auf exakt dieser kulturgeschichtlichen Ära, ja wäre ohne sie nicht denkbar.
Was sich am Anfang der Recherchen noch nicht hat erahnen lassen: Ein wundersames Band verknüpft Anfangs- und Endpunkt, Casanova und Churchill sind durch die Jahrhunderte auch ganz direkt verbunden, eben durch jene eingangs erwähnten Flugbahnen, «trajectories». Diese kreuzen sich in Leipzig. Das Manuskript von Casanovas Memoiren befand sich im Besitz der Verlegerfamilie Brockhaus in Leipzig und überstand die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg unbeschadet; der damalige Verlagsinhaber brachte die kostbaren Schachteln mit den eng beschriebenen Blättern mit der Hilfe seiner Sekretärin auf einem Dreirad in einen Banktresor. Später wurde es in einen Luftschutzbunker verlagert, wo es der Hitze eines Brandes und dann dem Wasser ausgesetzt war. Gemäss einer Anekdote, die in den Casanova-Recherchen von Tony Perrottet auftaucht, erkundigte sich Winston Churchill in Leipzig persönlich nach dem Verbleib der Handschrift. Am 12. Juni 1945 stellten die Amerikaner bei ihrem Abzug aus Leipzig, als sie die Stadt den Russen übergaben, dem Verlag Brockhaus einen Lastkraftwagen zur Verfügung. Dr. Brockhaus verpackte den Casanova-Nachlass in eine Kiste. So kam er nach Wiesbaden, in die neue West-Niederlassung des Verlags.
Aspekte des Reisens
Weshalb haben diese Berühmtheiten die Schweiz besucht, was haben sie hier gesucht, was haben sie gefunden, welche unmittelbaren Wirkungen oder Nachwirkungen hatte der Aufenthalt – künstlerisch, biografisch? Die Fragen scheinen einfach, die Antworten darauf sind es oft nicht.
Immer wieder treten uns neue Aspekte des Reisens entgegen: Was heisst es, durch ein Gemälde zu reisen statt durch eine reale Landschaft (Theodor Fontane), eine literarische Pilgerfahrt zu unternehmen (Jens Immanuel Baggesen), in der Schweiz Inspiration pur zu finden (Richard Wagner, Arthur Conan Doyle, Ernest Hemingway und viele andere), ein berufliches Projekt zu verfolgen, das mit Urlaub nicht viel zu tun hat (Leni Riefenstahl, Anderl Heckmair), inkognito zu reisen (Kaiserin Elisabeth von Österreich)?
Manchmal kommt sehr konventionelles Vokabular zum Einsatz (Karl Friedrich Schinkel), dann wieder verblüffende Bilder, Formulierungen, die einen die (Schweizer) Welt mit neuen Augen sehen lassen (Franz Kafka). Manche Reisenden inszenieren sich in allererster Linie selber, anderen ist die Landschaft das Wichtigste. Das ist zum Teil der Epoche geschuldet, zum Teil aber auch individuell bedingt.
En passant lässt sich ablesen, wie sich die Infrastruktur, die Reisemöglichkeiten rasant veränderten. Mitte des 18. Jahrhunderts prägten schlechte Strassen, oft über sumpfiges Gelände gelegt oder voller Steine, mit tiefen Gräben, die Reisen; in manchen Gebieten war, um die Strassen nicht zu verschlechtern, eine Gewichtsobergrenze für Fahrzeuge vorgesehen, nicht mehr als zwei Tonnen, und um diese Vorschrift durchzusetzen, fanden sich entlang der Hauptrouten Messstationen. Es gab schon erste Postkutschen, aber die geläufigste Art zu reisen war, sich selber eine Kutsche, Pferde und einen Fuhrmann zu mieten. Casanova mietete sich ein Gefährt ab Schaffhausen und holperte damit über miserable Strassen. 286 Jahre später, im Jahr 1946, steuerte Churchills Swissair-Sondermaschine den Flughafen Genf-Cointrin an. Dazwischen: Fusswanderungen, Postkutschen, Flussfahrten, Dampfboot, Dampfschiff, Eisenbahn, Zahnradbahn, Automobil – das ganze Spektrum eben.
Die 35 Porträts verstehen sich also als Schaufenster, Gucklöcher auf vergangene Zeiten, «en miniature» vermitteln sie eine andere Geschichte der Schweiz, voller erheiternder, inspirierender, verstörender oder trauriger Momente. Natürlich liesse sich das alles viel ausführlicher erzählen, auch stehen hinter jedem Porträt ganze Epochen. Genauer: Ausgehend von diesen «fremden Blicken», dem Prisma der Reisenden, liesse sich leicht eine fast komplette Geschichte der Schweiz rekonstruieren: wirtschaftliche Entwicklung, Tourismus und Infrastruktur, politische Vernetzung, internationale Beziehungen.
Unerzählte Geschichten
«Ich erinnere mich, wir standen an einem Steilhang: was war das für ein Nebel dort unten. Je tiefer, desto dunkler. Man konnte meinen, unten sei ein Meer von Sepia. Und die Tannen wurden immer seltener und dünner im Stamm. Ich erinnerte mich an Russland, den Norden. Und endlich: Rigi-Kulm, mehr als 2000 Meter hoch. Alle drei Riesenhotels auf diesem Gipfel sind leer, von Schnee verweht und im Nebel kaum zu sehen. Im Haupthotel fanden wir ein Zimmer, unten in der Stube für die Angestellten ist ein Ofen, drei Schweizerinnen mit hochroten Gesichtern. Wir trockneten uns, assen etwas. Und verbrachten den langen Winterabend in dieser Höhe, in absoluter