Markus Grimm

Abdulmesih und der liebe Gott


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eigenen Körper anzuschauen, und niemand soll zusehen.

      Nächte- und tagelang ziehen die Eltern durch den Wald und sammeln Eicheln, vom Baum oder vom Boden, jede einzelne kann Leben retten. Die Eicheln werden gewässert, bis die braune Schale weich ist, dann wird sie abgezogen. Die Eicheln werden in der Sonne getrocknet und in einer kleinen Handmühle gemahlen – für Eichelbrot. Dazu gibt es Trauben, ja, Gott hat die Menschen nicht ganz vergessen und schenkt in der Hungersnot wenigstens eine reiche Traubenernte. Das ergibt stärkenden Saft, und weil Not erfinderisch macht, ersinnt Sara allerlei Traubenspezialitäten. Und sie dankt ihrem Gott, dass kein Mangel an Wasser herrscht. Abdulmesih trinkt Traubensaft und Wasser und vermisst die Muttermilch, die ihn noch als Dreijährigen genährt hat, die süße, warme mütterliche Milch, deren Quelle jetzt versiegt ist.

      Im selben Jahr flieht Abdulmesihs ältester Bruder Safar über die nahe Grenze nach Syrien. Er flieht vor dem Hunger und vor der Einberufung zum türkischen Militär. Er wird nicht mehr zurückkehren, sondern dort heiraten und ein Auskommen finden.

      Jetzt kommt Abdulmesih in die Schule, mit sechs Jahren, dem Ausweis nach mit sieben. Zum Schulbeginn näht Mutter Sara ihrem Jüngsten eine Stofftasche zum Umhängen, Vater Davut kauft ihm ein Heft und einen Bleistift. So etwas hat Abdulmesih noch nie besessen, Heft und Bleistift sind sein ganzer Stolz. Jetzt ist er ein Schüler! Beides wird mit Sorgfalt in die Tasche gesteckt, die er sich um den Hals hängt. So geht es zum ersten Schultag. Aber – was sprechen die da, diese Lehrer? Er versteht kein einziges Wort. Das ist Türkisch. Abdulmesih kann nur sein Aramäisch, die Sprache der Vorfahren.

      Sportunterricht geht zum Glück auch ohne Worte – Rennen, Turnen, Hüpfen, das kennt jedes Kind, Abdulmesih ist begeistert dabei, es ist schön und lustig, und man versteht sich problemlos mit allen.

      Doch dann das schreckliche Erwachen: Beim Hüpfen hat er die Tasche umbehalten, und jetzt fehlt der kostbare Bleistift! Bleistifte wachsen nicht am Straßenrand, der Vater ist den Stift extra kaufen gegangen und hat dafür Geld bezahlt, Geld, das nicht leicht zu verdienen ist, schon gar nicht mit einem Arm. Abdulmesih ist verzweifelt, läuft herum, sucht, weint, aber der Stift ist weg. Der Lehrer sieht den weinenden Jungen.

      »Warum weinst du, mein Kind?« fragt er, aber auf Türkisch, er kann nichts anderes.

      Abdulmesih weint noch mehr. Er fühlt sich allein, keiner versteht ihn, keiner kann ihm helfen, und seinem Vater, der ihn verstehen würde, darf er den Verlust des Stiftes nicht melden. Aber er ist nicht allein, er ist nicht der einzige Aramäer hier. Man verdolmetscht dem Lehrer den Kummer des Kindes.

      »Ah«, sagt der Lehrer, strahlt und legt die Hände zusammen,» der Bleistift, du hast deinen Bleistift verloren! Nun komm, mein armes Kind, du musst nicht mehr weinen, schau: Hier schenke ich dir einen anderen, pass gut darauf auf.«

      Die Worte hat Abdulmesih nicht verstanden, aber den Lehrer hat er genau verstanden. Dieser gute fremde Mann rettet ihn aus einer großen Verzweiflung. Niemals in seinem Leben wird Abdulmesih vergessen, was so ein Bleistift gekostet hat.

      Türkisch lernt Abdulmesih in der Schule, außerdem Rechnen und türkisch-islamische Geschichte. Die aramäisch-christliche Geschichte lernt er in der Kirchenschule, auch die aramäische Schrift und die Sprache der Liturgie. Jeden Sonntag besucht er mit seinem Vater den Gottesdienst und dient als Ministrant. Und er begreift immer mehr, dass er Teil einer alten, ehrwürdigen Tradition ist. Nicht jeder hat daran Anteil, es ist ein Privileg. Dass die anderen Türkisch sprechen und denken, er hingegen Aramäisch, dass die anderen freitags in die Moschee gehen, er aber sonntags in die Kirche, all das ist kein Zufall oder Missgeschick, sondern genau das macht seine Besonderheit aus und ist seine ureigene Kraft. Trotzdem ist niemals Gegnerschaft zwischen ihm und den anderen. Und selbst wenn es seine Feinde wären: Menschen sind sie alle, und die gilt es zu lieben, wie es der Herr gesagt hat. Abdulmesih lernt die türkische und die aramäische Welt kennen und lernt, in beiden mit Selbstverständlichkeit zu leben – fünf Schuljahre lang. Dann endet die Schule, die einzige, die er jemals besucht. Wenn man ihn fragen würde: ›Abdulmesih, was hast du in der Schule gelernt?‹, er würde vielleicht antworten: ›Wer ich bin.‹

      Man schreibt das Jahr 49, er ist jetzt elf, offiziell zwölf, und hat gute Abschlussnoten.

      »Und was beginnst du jetzt, Abdulmesih?« fragt ihn der immer noch freundliche Lehrer.

      Ja, was soll er beginnen? Weit und breit gibt es keine Berufsschule, wo er eine Ausbildung machen könnte. Aber Abdulmesih ist um keine Lösung verlegen, denn er kann praktisch denken, das hat er von den Eltern gelernt.

      »Herr Lehrer«, sagt er stolz, »ich beginne etwas, das immer und überall gebraucht wird!«

      Der Lehrer kneift die Augen zusammen und schaut in die Luft. »Hm, was immer und überall gebraucht wird…«

      »Schreiner!« ruft Abdulmesih.

      »Es stimmt«, sagt der Lehrer, »du hast ganz recht, mein Junge. Häuser, Möbel, Holzgeräte, die gibt es auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten. Das ist ein gutes Beginnen, Abdulmesih.«

      Abdulmesih geht bei einem Schreiner in die Lehre, privat, und zieht drei Jahre lang als Bauschreiner über die Dörfer. Wie froh und stolz er ist, dass er jetzt eigenes Geld verdient mit seiner eigenen Hände Arbeit, Geld, mit dem er der Familie endlich helfen kann.

      Abdulmesih feiert den fünfzehnten Geburtstag, und das Jahr 1952 beginnt. Er hat immer zu tun, er kann nicht klagen, aber insgeheim denkt er an verlässlichere Einkünfte. Wie kann alles regelmäßiger werden? Eines Tages, als er nach Hause kommt, findet er alle in freudiger Aufregung: Der älteste Bruder Safar, an den Abdulmesih sich nur ganz undeutlich und kindhaft erinnern kann, hat aus Syrien geschrieben.

      »Was schreibt er denn?«

      Er schreibt, es gehe ihm und seiner Familie sehr gut, er vermisse zwar immer noch die alte Heimat und ihre Menschen, habe sich aber in Syrien in der Grenzstadt Qamishli eine schöne und sichere Existenz aufgebaut: Er führt ein Bauunternehmen.

      »Mein kleiner Bruder Abdulmesih«, schreibt er außerdem, »ist doch Schreiner geworden. Fragt ihn doch einmal, ob er nicht zu mir kommen will und in meiner Firma arbeiten. Er könnte hier gutes Geld verdienen, Geld, das dreieinhalb mal so viel wert ist wie in der Heimat!«

      Abdulmesih fährt eine Art Schreck in die Glieder, halb vor Glück und halb vor Angst: oh ja, gutes Geld verdienen! Aber die Heimat verlassen? Er schreibt seinem Bruder und fragt ihn, ob es möglich ist, dass er nur saisonal arbeitet.

      »Natürlich«, antwortet Safar, »du kommst im Sommer hierher, und im Winter, wenn wenig los ist, gehst du mit deinem schönen Verdienst zurück in die Türkei. Abgemacht?«

      Damit ist Abdulmesih höchst einverstanden, die Sache hat nur einen kleinen Haken: Sie ist illegal. Er braucht einen Schleuser, der ihn gegen Entgelt über die Grenze schmuggelt. Diese Art von Grenzverkehr kann er sich leisten, weil er mit dem guten syrischen Verdienst rechnen kann. In Midyat, das rund 60 Kilometer von der Grenze entfernt liegt, gibt es mehr als einen, der mit dem Schmuggeln von Menschen sein Brot verdient. Abdulmesih findet also ohne Schwierigkeiten einen Schleuser. Das ist ein leutseliger, etwas vierschrötiger Mann mit einer Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, der gerne Scherze macht und ständig raucht. Er ist durch Erfahrung gewitzigt und kennt die richtigen Orte und Zeitpunkte und die nötigen Leute. Stets wirkt er, als habe er alles schon erlebt und nichts mache ihm Kummer. Dieser Schleuser erläutert Abdulmesih das Verfahren:

      »Ich selbst bringe dich bis zur Grenze. Dort nimmt dich dann ein syrischer Freund von mir in Empfang.«

      »Ein Freund?«

      »Sicher, ein Freund«, sagt der Schleuser, bläst Rauch aus und lacht heiser, »der genau wie ich gern Menschen zur Grenze begleitet, du verstehst. Und dieser Freund bringt dich dann zu deinem Bruder.«

      »Verstehe. Und auf dem Rückweg am Ende des Sommers…«

      »Machen wir’s dann genau umgekehrt. Ganz einfach.«

      Es klingt wirklich ganz einfach, aber die Sache macht ihn trotzdem unruhig, das merkt Abdulmesih, als die beiden schon am nächsten Tag in Richtung