Markus Grimm

Abdulmesih und der liebe Gott


Скачать книгу

immer wieder besorgte Fragen, aber der lacht nur und winkt ab.

      Am Abend gelangen die beiden an die Grenze. Im Schatten der Nacht und in aller Stille geht es dann hinüber. Der Schleuser macht in diesen Augenblicken einen hochkonzentrierten und hellwachen Eindruck, er raucht auch nicht. Da! Wer taucht dort aus dem Dunkel auf? Es ist der syrische Schleuser-Kollege, man grüßt und verabschiedet sich kurz und stumm, und schon geht es weiter. Alles geht glatt, und als es vorbei ist, fühlt Abdulmesih sich ganz beschwingt. Seine Aufregung kommt ihm fast kindisch vor, denn zu keinem Zeitpunkt hat er irgendeine Gefahr wahrgenommen.

      Im Morgengrauen erreichen er und der Syrer Safars Haus in Qamishli. Der Mann bekommt sein Geld und verabschiedet sich scherzend, indem er die Hand soldatenhaft an die Stirn hebt.

      In Safars Haus gibt es ein großes Hallo. Umarmungen, Küsse, Tränen, Freudenrufe und wieder Küsse.

      »Mein Gott«, ruft Safar, »wie lange ist es her, dass wir uns zuletzt gesehen haben! Ich erkenne dich kaum wieder, Mesih, du bist schon fast ein Mann!«

      »Und ich war noch so klein, dass ich mich kaum an dich erinnere.«

      »Ja, es ist schlimm, was die schlimmen Zeiten mit uns machen. Aber jetzt danken wir Gott, dass er uns das Leben erhalten und uns heute wieder zusammengeführt hat.«

      Abdulmesih lernt seine Schwägerin Atija kennen, die aus Mardin stammt, und die Kinder der beiden: eine richtige Familie! Er freut sich sehr, lacht, erzählt und scherzt, aber er denkt auch mit leiser Traurigkeit an die getrennten Jahre, die nicht wieder eingeholt werden können.

      Man bewirtet ihn mit Gebäck und Anisschnaps, wie in der Heimat, und Abdulmesih genießt es, mit seinem Bruder Aramäisch zu reden.

      »Kannst du schon Arabisch?« fragt Safar.

      »Ein wenig.«

      »Na, das lernst du hier schnell. Im Betrieb gibt es auch Türken, du wirst gut zurechtkommen. Aber nicht sofort, jetzt machst du erst mal ein paar Tage Urlaub, lernst meine Familie und die Umgebung kennen und erholst dich von der ausgestandenen Gefahr.«

      »Es war gar nicht gefährlich«, sagt Abdulmesih leichthin.

      Da wird Safar ernst. »Du!« sagt er mit Nachdruck und hebt die Augenbrauen. »Nimm das nicht zu leicht. Nur weil es Nacht ist und du die Gefahr nicht sehen kannst, heißt das nicht, dass sie nicht da ist.«

      Am Abend liegt Abdulmesih wach im Bett und denkt nach, er kann noch nicht schlafen. Das Haus seines Bruders ist groß und modern, und man merkt, dass er Geld hat. Auch das Bett ist groß und sehr bequem. Es flößt Abdulmesih Bewunderung ein, dass er das alles, von dem er bisher nur aus Briefen gewusst hat, jetzt tatsächlich zu Gesicht bekommt. Sein großer Bruder hat es zu Wohlstand gebracht, das ist klar zu erkennen, und zwar durch Mut und Willen und seiner Hände Arbeit. Abdulmesih atmet durch, gleitet langsam in ein halbes Dämmern hinüber, in dem Vergangenes und Zukünftiges in schattenhaften Gestalten und Bildern durcheinanderflirren, und schläft schließlich ein.

      Kapitel 2

      Ein paar Tage später bekommt Abdulmesih nun auch den Betrieb zu Gesicht. Wahrhaftig, es ist eine richtige Baufirma, mit verschiedenen Abteilungen, mit Arbeitern und Vorarbeitern, mit Lager, Werkzeughalle und Fuhrpark, und Abdulmesihs Bewunderung wächst noch mehr. All dies hat Safar in den knapp anderthalb Jahrzehnten, die er in Syrien ist, auf die Beine gestellt. In dieser Baufirma wird alles gemacht: vom Fundament über die Mauern bis zum Dach, Leitungen, Rohre, Wohnhäuser, Geschäftshäuser. Abdulmesih beginnt, als Zimmermann zu arbeiten. Die Verständigung klappt gut und wird rasch noch leichter, Abdulmesih fügt sich mit seiner Arbeit problemlos ein, und Safar merkt schnell, dass er einen fleißigen, anpassungsfähigen und verantwortungsbewussten Mitarbeiter gewonnen hat, dem er überdies noch persönlich so nahesteht. Und er denkt sich: ›Der Mesih ist eigentlich auch ein Unternehmer.‹ Nach ein paar Monaten macht er ihn zum Abteilungsleiter.

      Der Winter naht. Die Arbeit wird weniger, und Abdulmesih will zurück in die Heimat. Er tauscht seinen Verdienst in türkische Lira und ist vor Aufregung fast erschrocken über die Summe, die er in Händen hält und die er jetzt nach Hause trägt. Oh ja, das hat sich gelohnt! Auch diesmal geht an der Grenze alles glatt, und die Heimat hat ihn glücklich wieder.

      Und so geht es nun jahraus, jahrein: im Sommer in Syrien und im Winter zuhause. Der Schleuser lacht und raucht stets wie eh und je, bis ihm eines Nachts das Lachen im Halse stecken bleibt.

      Mit seinem bewährten Kunden Abdulmesih schleicht er zu Beginn des Winters 1956 wie gewohnt durch die graue Nacht – da, plötzlich: aufgeregte Stimmen und türkisch geschriene Befehle:

      »Halt, stehengeblieben!«

      Erwischt! Vor Schreck zuckt Abdulmesih reflexhaft zurück, aber der Schleuser hält ihn ebenso reflexhaft fest:

      »Komm bloß nicht auf die Idee wegzulaufen«, zischt er ihm zu, »die knallen dich ab.«

      Sie werden gepackt und unsanft abgeführt. Im funzeligen Licht einer schäbigen Polizeistube bauen sich schließlich zwei bewaffnete türkische Grenzbeamte vor ihnen auf. Abdulmesih und sein Schleuser sitzen auf zwei wackeligen Stühlen, es ist sehr früher Morgen, die Stimmung ist seltsam still und dumpf. Der Schleuser hat seine Ruhe inzwischen scheinbar wiedergefunden, er macht schon wieder Scherze, bemüht sich um gute Stimmung und lotet offensichtlich seine Chancen aus, die beiden Türken, die misstrauische Blicke wechseln, mit irgendetwas zu bestechen.

      »Zigarette? Kommt, greift zu!«

      Die beiden bedienen sich und fangen an zu rauchen, werden aber kein bisschen freundlicher.

      Einer setzt sich an den Schreibtisch, nimmt Stift und Papier und fragt: »Woher kommt ihr?«

      »Na, woher werden wir kommen«, sagt der Schleuser und lacht jovial, »von hier natürlich, wir sind ja Türken.«

      »Zeig mal deine Papiere. Und der andere da auch.«

      »Hier bitteschön.«

      »Was macht ihr hier?«

      »Wieso, was meinst du, Herr Offizier? Wo sind wir denn hier?«

      »Lass die Faxen, Freundchen«, ruft der andere drohend dazwischen, »sonst kriegst du Probleme!«

      »Hier«, sagt der andere betont, »ist Grenzgebiet, und ihr wart gerade drüben.«

      »Was? Da haben wir uns verlaufen!«

      »So, um diese Tageszeit?«

      »Freundchen«, lässt sich der andere wieder vernehmen, »ich warne dich!«

      So geht es eine Weile hin und her. Abdulmesih hört zu, und ihm wird angst und bange. Die Lügen des Schleusers kommen ihm so dermaßen plump und offensichtlich vor, dass ihm fast schlecht wird. Wohin soll das alles führen?

      Aber es passiert fürs Erste nicht viel. Ihre Personalien werden notiert und die Ausweise einbehalten. Beide wandern in eine improvisierte Zelle, bis der Morgen graut. Der Schleuser ist guten Mutes, und wenn Abdulmesih fragt: »Und was jetzt?«, winkt er lachend ab, lehnt sich an die Wand und döst.

      Am Morgen taucht ein verschlafener Vorgesetzter auf, lässt sich einen Kaffee servieren, raucht, hört sich an, was vorgefallen ist, trinkt einen zweiten Kaffee und betrachtet beim dritten Kaffee die Ausweispapiere. Er wirkt noch humorloser als die beiden Grenzbeamten, lässt Abdulmesih und den Schleuser vorführen, und während er einen vierten Kaffee trinkt, erklärt er ihnen gelangweilt und ohne erkennbare Regung:

      »Sieht aus, als wärt ihr Spione.«

      »Spione?« ruft der Schleuser belustigt. »Wir?«

      Der vorgesetzte Offizier hebt nur den Zeigefinger und sagt ganz ruhig: »Mund halten. Ist offensichtlich: Ihr seid Türken und kommt nachts illegal aus Syrien herübergeschlichen. Warum wohl? Sieht aus wie Geheimnisverrat, wenn du mich fragst.«

      Jetzt erschrickt Abdulmesih, das kann übel ausgehen. »Herr Offizier, ist es erlaubt?«

      Der Offizier hebt nur leicht das Kinn.

      »Herr