Heinz Nauer

Fromme Industrie


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Im selben Jahr übernahm die Firma Benziger Kreuzburg & Nurre, das damals einzige grössere Konkurrenzunternehmen im Bereich des deutschsprachigen katholischen Buchhandels in den USA, und errichtete eine zweite Filiale in Cincinnati. Für ein knappes Jahrzehnt hatte die Firma Benziger in den USA – unter dem Namen «Benziger Brothers» – eine Monopolstellung inne.260

      Das amerikanische Geschäftsmodell

      Der Handel mit katholischer Ware war in den USA ein zunehmend lohnendes Geschäft. Noch 1820 lebten auf dem Gebiet der damaligen USA weniger als 200 000 Katholiken. Im Zuge vor allem der irischen und der deutschen Einwanderung erhöhte sich ihre Zahl bis 1850 auf rund 1,6 Millionen. Im Jahr 1860 lebten allein in New York 400 000 Katholiken. Bis 1900 stieg die Zahl der Katholiken – nun vermehrt auch Italiener, Osteuropäer, Frankokanadier und Mexikaner – landesweit auf über zwölf Millionen.261 Auch das Netz der katholischen Pfarreien – die Kerninstitutionen im amerikanischen Katholizismus –, die vor allem in ländlichen Gebieten für viele Immigranten sozial eine enorm wichtige und integrative Rolle spielten, wurde immer dichter.262 Kurz: Die potenzielle Käuferschaft der Verlagsprodukte in den USA wurde zahlreicher, der Markt grösser.

      Die katholische Kirche in den USA war im 19. Jahrhundert hauptsächlich eine Kirche von Immigranten. Verschiedene Studien über die europäische Auswanderungsgeschichte im 19. Jahrhundert haben gezeigt, dass die Wanderung von der Alten in die Neue Welt selten zu einer «Entwurzelung» der Menschen führte, sondern, dass sie häufig ihre heimatliche Lebensform in die neue Heimat «verpflanzten». Zu dieser «Verpflanzung» gehörten wie selbstverständlich auch kirchliche Strukturen und der Bau von Kirchen.263

      Religion und Nation gingen dabei Hand in Hand. Dies zeigt sich etwa bei den Pfarreien, die in der Regel nach ethnisch-nationalen Kriterien beziehungsweise nach Sprachgruppen organisiert waren. Es gab deutsche, irische, polnische, tschechische Pfarreien und andere mehr. Dasselbe Phänomen lässt sich auch innerhalb der katholischen Literatur beobachten. So entstanden neben den älteren amerikanischen Verlagshäusern auch Häuser, die sich gezielt auf die spirituellen Bedürfnisse der irischen, polnischen, tschechischen oder deutschen Bevölkerung ausrichteten. Die katholischen Verlage waren dabei ein integraler Bestandteil eines konfessionellen Bildungsnetzwerks, zu dem nicht nur Schulen und Colleges gehörten, sondern auch Klöster und Missionsstationen, Lesezirkel, Pfarreibibliotheken, Sommercamps für Jugendliche und religiöse Sodalitäten. Die Förderung «guter», edukativer Lektüre war ein Kernanliegen innerhalb dieser Zirkel.264

      Im Falle der Benziger Brothers dürfen wir davon ausgehen, dass auch die Tausenden von schweizerischen, österreichischen und deutschen Wohltätigkeits-, Unterstützungs-, Gesangs-, Sport- und Freizeitvereinen, die im 19. Jahrhundert entstanden und teilweise auch Bibliotheken unterhielten, dem Absatz förderlich waren. Über die Position der Benziger Brothers in diesen Netzwerken lässt sich allerdings wenig Konkretes sagen. Es scheint ihnen aber mühelos gelungen zu sein, ihre privilegierte soziale Stellung der Herkunftsregion in den USA zu reproduzieren. Die hohe soziale Stellung äusserte sich in verschiedenen Ehrenämtern. J. N. Adelrich B.-von Sarnthein beispielsweise wurde 1864 vom Schweizer Bundesrat zum ersten Konsul von Cincinnati ernannt. Sein Cousin Louis B.-Mächler war Mitglied im elitären «Catholic Club» in New York, Vizepräsident des katholischen St.Raphaelhilfswerks sowie Mitbegründer des «Leo House», einer karitativen Einrichtung für deutschsprachige Einwanderer, und einer Sparkasse auf Long Island. Nikolaus B.-Benziger II war 1891 in New York Gastreferent an der Feier zum 600-jährigen Bestehen der Schweiz.265

      Die Filiale in New York konzentrierte sich zunächst auf den Import von Verlagswaren, die im Mutterhaus in Einsiedeln hergestellt wurden, in erster Linie Gebetbücher. 1860 wurde in Cincinnati eine fabrikmässig betriebene Buchbinderei eingerichtet, die im Jahr 1871 nach New York verlegt wurde. Mit allen amerikanischen Filialgeschäften verbunden waren jeweils einer oder mehrere «Stores» für Bücher; verkauft wurden aber auch Andachtsbilder, Devotionalien und Kirchenornamente.

      Die Firma war bestrebt, ihre Verlagswaren durch hohe Auflagenzahlen möglichst billig zu halten und so auch ärmere Haushalte zu erreichen. Die billigsten religiösen Statuen im Angebot, rund sechs Zentimeter kleine Marien- und Josefdarstellungen aus Biskuitporzellan, kosteten gerade mal vier Cents.266 Auch bei den Gebetbüchern legte man grossen Wert auf tiefe Preise. «In der grossen Auflage liegt der Verlegernutzen», schrieb das Mutterhaus im Mai 1866 nach Amerika.267 Vor allem «kleine Gebetbüchlein» mit «volksthümlicher Richtung» sollten in den USA gefördert und «wissenschaftliche, politische oder grössere Werke, die nur Ehre aber keinen Nutzen bringen» strikt ignoriert werden.268

      Der Gebetbücherhandel bildete auch in den USA das beständigste Fundament der Firma.269 Die amerikanischen Geschäfte begnügten sich allerdings nicht mit dem Import von in Einsiedeln produzierter Verlagsware. Finanziell weit «glänzigere Erfolge», wie es in den Quellen heisst, brachte ihnen der Bilder-so-wie vor allem der Paramenten- und Kirchenornamentenhandel.270 Schon bald hatte man nämlich mit dem Import von religiösen Statuen, Kelchen, Kreuzen, Gemälden, Altarbildern, Kronleuchtern, Kirchenfenstern und anderem begonnen. In Verlagsanzeigen wurden etwa auch diverse Fahnen und Flaggen für Kirchen und Schulen sowie Plaketten, Auszeichnungen und Schärpen speziell für Vereine angepriesen. Die Kirchenfenster importierte die Firma von der Mayer’schen Hofkunstanstalt in Wien, später von der Königlichen Bayerischen Hofglasmalerei F. X. Zettler in München. Die von Benziger vertriebenen Kirchenfenster zierten, wenn man der Verlagswerbung Glauben schenkt, Kirchen in den ganzen USA, von Boston bis Texas.271 Die religiösen Statuen stammten zunächst auch von Mayer, später von der Pariser Firma Froc, Robert & Co., mit der die Firma Benziger 1885 einen Exklusivvertrag für die USA abschloss.272 Die Textilien für die Paramente importierte man zumeist aus Frankreich, häufig von Handelsunternehmen in Lyon. Die weitere Verarbeitung erfolgte in den USA, zunächst in Heimarbeit und später in fabrikmässigem Betrieb. Die Kirchenornamente, welche die Firma Benziger in den USA im Angebot hatten, stammten teilweise ebenfalls aus Europa. 1864 übernahm die Firma in New York ein kleines Fabrikationsgeschäft für Monstranzen, Messkelche und Ziborien und betrieb ein eigenes Atelier. Später stellte das Atelier auch religiöse Medaillen und ab etwa 1890 auch Kruzifixe, Kandelaber, Lampen, Kronleuchter und ähnliche Artikel in Metall für Kirchen her. 1894 bezog die Firma in Brooklyn ein eigenes Fabrikgebäude mit einer eigenen Giesserei, wo die verschiedenen technischen Betriebe – die Fabrikation von Kirchenornamenten, die Buchbinderei, die Paramentenstickerei – zusammengeführt wurden. Mit ihren Fabrikaten erhielten sie mehrere Auszeichnungen, so etwa das Ehrendiplom und die goldene Medaille für ihre Kirchenornamente an der Vatikanischen Ausstellung 1888 in Rom oder das Diplom für die «beste Arbeit im Produziren von Kirchenornamenten in Gold, Silber und platinirt und strengem Festhalten an correctem kirchlichem Styl». Im selben Jahr folgte der Ehrentitel «Päpstliches Institut für christliche Kunst».273

      Daneben wurde der Bücher- und Zeitschriftenverlag kontinuierlich erweitert. Englische Literatur löste die deutsche ab den 1870er-Jahren zunehmend ab. Der französische Verlag wurde in den 1890er-Jahren völlig aufgegeben. Herausgegeben wurden Schulbücher, Betrachtungsbücher, Katechismen, biblische Geschichten, ab 1872 eine speziell für katholische Schulen geschriebene Serie deutscher Lesebücher, ab 1874 eine erfolgreiche Serie englischer Schulbücher von Richard Gilmour (1824–1891), dem Bischof von Cleveland. In den 1880er-Jahren folgte die Schullesebücherreihe «Catholic National Readers». Hinzu kamen Bücher speziell für Geistliche sowie populäre religiöse Bücher aller Art. Bei den periodischen Schriften zu erwähnen sind in erster Linie das traditionsreiche Blatt «Der Wahrheitsfreund» (ab 1837), das ab 1866 von der Firma Benziger verlegt wurde, der Kalender «Cincinnatier Hinkende Bote» (1862–1906) sowie das Jahrbuch «Catholic Home Annual» (ab 1884). Bereits ab den 1850er-Jahren wurde der «Einsiedler Kalender», der erfolgreichste deutschsprachige Volkskalender seiner Zeit, in einer gezielt auf den amerikanischen Markt angepassten Version in den USA vertrieben. Die Auflage in Amerika betrug bereits nach wenigen Jahren mehr als 50 000 Exemplare.274 Etwas weniger Erfolg beschieden war der Familienzeitschrift «Alte und Neue Welt», die 1866 in den USA und ein Jahr später in Europa lanciert wurde. Die Zeitschrift erreichte insgesamt zwar eine Auflagenzahl von über