von Kigali, die ich in diesen zwei Wochen zu Gesicht bekam, waren unverputzt und aus den charakteristischen braunen und ockerfarbenen Ziegelsteinen errichtet, die an Ort und Stelle in pyramidenförmigen Freiluftofen hergestellt wurden. Zu unserer dreiköpfigen Deutschschweizer Gruppe gesellte sich dann oft noch Valentin Gillessen, ein älterer, gemütlicher Laienbruder aus Belgien mit schlohweissem Haar. Auf Erzählungen reagierte er regelmässig mit einem abschliessenden, Gelassenheit verströmenden «Tiens, tiens!» – ein Ausspruch, der in unserer Familie zu einem Running Gag wurde, da meine Eltern Valentin bei ihrem Besuch 1984 ebenfalls kennen- und schätzen lernten.
Ein wichtiger Punkt im Tagesablauf während des Aufenthalts im Hause Heizmann war das Frühstück. Es bot eine Synthese der Schweizer und ruandischen Küche. So gab es zwar «Konfi und Anke» aufs Brot. Doch zum ersten Mal war ich auch mit bisher unbekannten Früchten konfrontiert: Mango, Avocado, Litschi und Passionsfrucht. Ich wurde instruiert, die Mangoschnitze mit Zitrone zu beträufeln. Am besten schmeckten mir allerdings die Passionsfrüchte. Das Frühstück war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mit der einheimischen Bevölkerung in engen Kontakt kam. Denn das Frühstück wurde von zwei Ruandern vorbereitet und aufgetragen, die – obschon bereits erwachsene Männer – als «Boys» bezeichnet wurden, die damals für einheimische Hausangestellte übliche Bezeichnung. Wieso man auf diese englische Bezeichnung verfiel, obschon in Ruanda Französisch die Verkehrs- und Amtssprache war, blieb mir ein Rätsel. Ich pflegte etwas Konversation mit den beiden, hatte aber Mühe, das für Schwarzafrikaner typische kehlige Französisch mit verschluckten Endsilben zu verstehen. Das führte denn auch einmal zu einem heillosen Durcheinander, weil die «Boys» der Meinung waren, ich hätte Salz und Pfeffer in die Küche zurückgebracht, wo sie aber nicht zu finden waren.
Wegen der Schwierigkeit, das einheimische Französisch zu verstehen, geriet ich auch in die einzige Situation während der drei Wochen, in der ich für einen kurzen Moment so etwas wie Angst empfand. Zusammen mit zwei Ruandern fuhren meine Taufpatin und ich eines Tages zum Flughafen. Ich vermute, sie wollte wegen ihres Gepäcks etwas nachfragen. Ich blieb zusammen mit den beiden Ruandern beim Auto zurück, während meine Taufpatin im Abfertigungsgebäude verschwand. Einer der Ruander, mit denen ich bislang kein Wort gewechselt hatte, sprach mich auf Französisch an. Ich hörte am Klang seiner Stimme, dass er eine Frage stellte, doch ich verstand ihn nicht. Um mir keine Blösse zu geben, sagte ich einfach «Oui», was jedoch die Frage keineswegs zu beantworten schien. Der Ruander wiederholte sie also, ich gab wieder mein «Oui» zum Besten, worauf er sichtlich ungehalten wurde – mir erschien er plötzlich aggressiv. Ich fühlte mich bedrängt und hoffte auf eine baldige Rückkehr meiner Taufpatin. Doch diese liess sich nicht blicken. Die Fragerei ging weiter, und ich fühlte mich nun wirklich in die Ecke gedrängt. Mit aufsteigender Panik sank natürlich auch meine Fähigkeit, das ruandische Französisch zu verstehen, noch tiefer. Schliesslich kam die Erlösung. Der Mann wechselte auf Englisch, das ich wesentlich besser verstand. Was er wissen wollte, war harmlos, und ich gab die gewünschte, alles bereinigende Antwort. Und in meiner bereits wieder in Richtung Übermut ausschlagenden Erleichterung fragte ich den Ruander – auf Englisch, um sicher zu gehen –, wie viele Sprachen er denn beherrsche. Er sagte kühl, fast schon etwas abschätzig mit der Sicherheit des sich seiner Bildung Bewussten, auf Französisch: «Quatre! Français, Anglais, le Swahili et évidemment le Kinyarwanda.» Ich war beeindruckt.
In meiner Erinnerung an diese Reise ist Ruanda farblich eine Mischung aus einem leicht gelblichen Grün und einem satten Rostbraun. Grün, weil das Land mir sehr fruchtbar erschien. Überall wuchsen Bananenstauden, der Garten der Missionsstation von Kabgayi war überwältigend, entlang der Strassen standen endlos mannshohe Buschhaine; fast jeder Quadratmeter des Landes war landwirtschaftlich genutzt und bebaut. Und Rostbraun, weil dies die Farbe der nackten Erde war; sie unterscheidet sich sehr vom dunklen Braun der europäischen Erde. Ich erinnere mich auch an die Leute und an ihre grosse Anzahl. Nur halb so gross wie die Schweiz, hatte Ruanda damals fünf Millionen Einwohner – und fast alle waren noch Bauern. Kein Wunder, war jeder Quadratmeter als Acker genutzt. Am eindrücklichsten bekam ich das bei unserem Besuch im Akagera-Nationalpark zu Gesicht. Der Übergang von der besiedelten Zone der Menschen zu jener der geschützten Zone der Tiere im Park verlief hier nicht graduell wie in anderen afrikanischen Ländern, sondern abrupt: Das ganze Terrain war in bebaute Felder parzelliert, und zwar bis just an die Grenze des Parks. Wir waren viel unterwegs, als wir Ruanda besuchten. Die Strassen waren permanent belebt: Männer zu Fuss oder auf klapprigen, völlig überladenen Velos, prekär balancierend auf den oft von vielen Rinnen und Furchen durchpflügten Pisten; Frauen mit stocksteifem, geradem Oberkörper und einem Turm von Lasten auf dem Kopf, dazu einem Kleinkind auf dem Rücken; Schulmädchen und -jungen in Schuluniformen. Dieser Gegensatz frappierte mich damals: Dass viele Leute arm waren, sah man an den Kleidern, die insbesondere bei den Männern selten mehr als bessere Lumpen waren. Doch die Schuluniformen waren in meiner Erinnerung immer tadellos, sassen perfekt, wirkten sauber, was bei den Jungen noch leicht möglich war, waren ihre Uniformen doch kakifarben. Doch bei den älteren Mädchen bestand die Uniform aus einem blauen oder grünen Rock und einer weissen Bluse. Die Jungen hatten den Schädel (fast) kahl geschoren, die Mädchen die Haare kurz, eine wohl verordnete Vorsorge gegen Läuse. Der Staub der Landstrasse konnte diesem tadellosen Erscheinungsbild scheinbar nichts anhaben. Die Kinder putzten sich heraus für den Schulbesuch, so wie man sich früher bei uns für den Kirchgang herausgeputzt hatte. Im Lauf unseres Aufenthalts sagte meine Taufpatin einmal, die ruandischen Kinder gingen sehr gerne zur Schule. Bei uns zu Hause, im wohlhabenden und behüteten Europa, war der Tenor unter uns Schülern ein anderer. Aber eben, wir waren (schon damals) nicht arm.
Diese Reise nach Ruanda war die erste Gelegenheit in meinem Leben, bei der ich mit meiner Taufpatin längere Zeit am Stück zusammen war. Vorher hatten wir uns einfach von Besuchen her gekannt, und die hatten vor allem stattgefunden, als ich noch ein Kind war. Natürlich war das jetzt anders, da ich mittlerweile 17 Jahre und fast schon erwachsen war. Meine Taufpatin hatte auf alle Fälle keine Probleme, sich mit einem späten Teenager zu arrangieren. Sie hatte lange kirchliche Jugendarbeit gemacht und war sich wohl einiges gewohnt. Wir gewöhnten uns rasch aneinander. Ich entdeckte, dass meine Taufpatin eine vorsichtige Frau war. Das dürfte einerseits auf ihre langjährige Erfahrung in Afrika zurückzuführen gewesen sein. Andererseits gab es wohl auch einen gewissen Beschützerinstinkt: Immerhin war sie für mich verantwortlich. In Erinnerung geblieben ist mir das anhand von zwei Episoden: Als wir auf der Hinreise in Brüssel einen Zwischenhalt machten, blieb ich vor eine Vitrine mit belgischer Patisserie stehen, von der mir der rote, grüne und gelbe Zuckerguss in Erinnerung geblieben ist, mit der sie überzogen war. Kein Schweizer Süsswarenproduzent hätte seine Ware dermassen «verunstaltet». Ich spürte denn auch kein Verlangen nach diesen eklig ausschauenden Dingern. Doch meine Taufpatin verstand wohl die Tatsache, dass ich vor der Vitrine stehen geblieben war, als Signal, dass ich einige dieser Kalorienbomben kaufen wollte. Sie packte mich sanft, doch energisch genug an den Schultern und lotste mich aus der Gefahrenzone. Dabei murmelte sie: «Das ist nichts zum Essen! Davon wird einem nur schlecht.» Dann, bereits in Ruanda, besuchten wir einen Ort, der so etwas wie eine Gedenkstätte war. Es war am Abend nach einem anstrengenden Tag mit vielen Besuchen, und ich hatte mich die ganze Zeit freundlich und höflich geben müssen. Das fällt einem 17-Jährigen nicht immer leicht; auf jeden Fall war mir noch nach etwas Ausgefallenem zumute, und so unterschrieb ich, in einem Anflug von nicht allzu ernst gemeintem Grössenwahn und im Wissen, dass wir ohnehin beim Aufbruch waren und ich wohl in meinem ganzen Leben nie an diesen Ort zurückkehren würde, im Gästebuch mit «Rolf-Napoléon de Tanneritz». Als Margrit das sah, erschrak sie. Sie setzte hastig ihre Unterschrift zu meiner und zerrte mich ins bereit stehende Auto. Als die Türen geschlossen waren, beschwor sie mich in ernstem, vorwurfsvollem Ton: «Also, so einen Blödsinn, einen falschen Namen, und dazu noch so einen grossspurigen, ins Gästebuch zu schreiben, musst du hier nicht machen. Das kann ins Auge gehen!» Doch dann, fünf Minuten später, lachte sie schallend heraus und sagte: «Ich wusste gar nicht, dass du zu derartigen Streichen aufgelegt bist.» Die Sache hatte auf jeden Fall ein Nachspiel: Als nächstes Geburtstagsgeschenk – das sie mir ja nicht mehr hätte machen müssen, da ihre Geschenkpflicht als Taufpatin mit der Ruanda-Reise eigentlich abgegolten war – bekam ich ein Abonnement der Satirezeitschrift Nebelspalter. Der ersten Nummer war ein «Nebelspalter-Spasspass» beigelegt, von meiner Taufpatin mit der Schreibmaschine ausgestellt auf einen gewissen «Rolf