Zwischenlandung in Nairobi das Flugzeug verliess und in die wabernde Hitze hinaustrat, die mich fast erschlug, fiel mein erster Blick auf einen Angehörigen des Bodenpersonals, der in einer dicken, schwarzen Lederjacke mit Pelzkragen am Fuss der Gangway stand. Allein der Gedanke daran, hier ein solches Kleidungsstück tragen zu müssen, brachte mich gedanklich dem Hitzetod nahe. Ich erzählte Margrit davon, und wir mussten beide herzhaft lachen. Sie warnte mich: «Du wirst noch viele solche Szenen sehen.»
Mein Kopf ist heute noch voller Erinnerungsfetzen meiner Reise. Etwa, dass auf Hausmauern Glasscherben eingepflastert waren, um Diebe abzuhalten. Das machte grossen Eindruck auf mich. Kriminalität war zwar damals auch in der Schweiz bekannt. Aber zur Abwehr von Einbrechern und Dieben wurde nicht zu solch drastischen Mitteln der Abschreckung gegriffen. Dann gibt es eine Szene, die mich berührte: Wir gingen am Sonntag in eine Kirche, die schon eine halbe Stunde vor Beginn der Messe gestossen voll war. Und immer noch trafen Leute ein. Die Kirche hatte offensichtlich Wächter angestellt, die dafür sorgten, dass nur Erwachsene das Gebäude betraten. Kinder wurden verjagt, wenn nötig mit Stockhieben. Ich erinnere mich an die üblen Strassenverhältnisse und die Tatsache, dass unser gelbes Auto, mit dem wir normalerweise unsere Ausflüge unternahmen, nach jedem noch so kurzen Trip staubbedeckt war. Angeblich gab es damals in Ruanda nur zwei kurze Strassenstücke, die mit einem Belag versehen waren: eine Strecke im Osten des Landes, die von den Chinesen gebaut worden war, und schliesslich den Weg vom Flughafen zum Präsidentenpalast in Kigali. Hundert Meter hinter diesem hörte dann der Teerbelag auf und ging in die übliche Schotter- und Dreckpiste über. Mit dem Besuch in Kigali verbinde ich auch eine Kurzbegegnung mit der Frau des damaligen Präsidenten Juvénal Habyarimana: Wir warteten im Auto an einer Kreuzung, schräg gegenüber von einem modernen Geschäft, aus dem eben eine Dame trat. Meine Taufpatin sagte: «Schau, Madame la Présidente.» In meiner Erinnerung trug sie nach landesüblicher Art ein langes, grün-rosafarbenes Gewand und einen Turban, wie ihn damals die Frauen aus besseren Schichten zu tragen pflegten. Sie wurde von zwei oder drei Soldaten, möglicherweise Leibwächtern, begleitet. Kaum war sie in der Tür erschienen, stürzte sich eine Gruppe von Bettlern auf sie. Sie schmiss ihnen ein paar Münzen oder Noten hin, und die Gruppe stritt sich um das Geld. Darauf wurde die Präsidentengattin zu einem bereit stehenden Wagen geleitet und fuhr davon. Ich fand es sympathisch, dass die Präsidentengattin offenbar in einem «normalen» Geschäft einkaufte, und dies ohne grossen Aufwand oder Begleitschutz. Es erinnerte mich fast ein bisschen an die Schweiz, wo Bundesräte auch mit dem Tram zur Arbeit und mit dem Zug zu Vorträgen im ganzen Land fahren.
Wie schon erwähnt bildeten ein Wochenende am Kiwu-See und eine Safari im Akagera-Nationalpark gleichzeitig Höhepunkt und Abschluss der Reise. Meine Taufpatin hat dieses Programm später mit vielen anderen «Margrit-Fuchs-Touristen» wiederholt, zum Beispiel mit meinen Eltern bei deren Besuch 1984. Geblieben ist mir der Anblick der zahlreichen Buchten des Kiwu-Sees auf der ruandischen Seite – und auch, dass ich mir einen zünftigen Sonnenbrand an den Füssen holte. Der See war für mein Empfinden sehr breit: Gewohnt an Schweizer Seen, bei denen man das gegenüberliegende Ufer in der Regel relativ gut erkennt, nahm ich die zairische Seite im Dunst nur sehr schemenhaft wahr. Ich fühlte mich eher am Meer als an einem See. Nach dem Abstecher an den Kiwu-See kehrten wir ins Haus Peter Heizmanns zurück, um dann ein paar Tage später in die andere Richtung, in den Osten zum Akagera-Park, aufzubrechen. Dort übernachteten wir ein- oder zweimal. Der geplante Höhepunkt war die Beobachtung eines Löwenrudels, doch erst am letzten Tag hatten wir Glück und sahen ein Rudel, das sich gerade vollgefressen und zwecks Verdauung quer über die Fahrbahn gelegt hatte – diese freizugeben, kam den Löwen selbstverständlich nicht in den Sinn. Wir mussten das schläfrige Rudel mit unseren Jeeps umfahren, indem wir von der Piste ins benachbarte Grasland auswichen.
Schliesslich kam der Moment des Abschieds. Ehrlich gesagt: Ich war nicht unglücklich, dass es wieder nach Hause ging, denn ich war von den Eindrücken richtiggehend erschlagen und auch etwas überfordert. Aber ich war auch dankbar, und ich wollte dies zeigen. Ich hatte etwas erlebt, das den meisten meiner Altersgenossen zu dem Zeitpunkt fehlte. Deshalb betonte ich mehrmals lautstark im Beisein meiner Taufpatin und anderer, wie schade ich es fände, dass die Zeit so schnell vorbeigegangen sei. Während unseres Aufenthalts war ein paarmal erwähnt worden, dass anlässlich des Staatsstreichs von 1973 der Flughafen geschlossen und die Ausreise verunmöglicht worden war. Ich griff diesen Gedanken auf und meinte spasseshalber, ich wünschte mir, es gäbe wieder einen Putsch, um so die Abreise hinauszuzögern, so ein Staatsstreich könne ja durchaus unblutig verlaufen, aber er sollte mindestens eine Woche dauern. Alle fanden das lustig und nahmen es als Zeichen, dass es mir sehr gefallen hatte. Keiner ahnte damals, wie makaber dieser Spass im Nachhinein sein sollte angesichts der dramatischen Ereignisse, die das Land 15 Jahre später tatsächlich heimsuchen sollten.
Kontext
Das obere Fricktal an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
Margrit Fuchs’ Wurzeln liegen im oberen Fricktal. Sie war Ortsbürgerin von Hornussen und bewahrte ihr Leben lang eine grosse Anhänglichkeit an die Herkunftsregion ihrer Familie. Es lohnt sich deshalb, näher auf die Ursprünge der Familie sowie das damit verbundene gesellschaftliche und regionale Milieu im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert einzugehen.
Begrenzt durch den Rhein im Norden und die Höhenzüge des Kettenjuras im Süden und Osten, wird das obere Fricktal durch seine charakteristischen Tafeljura-Berge geprägt. Es ist in mehrere Geländekammern unterteilt. Sie sind durchfurcht von Bächen, die an den Abhängen der Hügel und Berge entspringen und Täler und Flure bilden. Das grösste dieser Gewässer ist die Sissle, in der sich sechs Bäche vereinen. Sie formt eine Ebene, in der auch der namengebende Hauptort der Landschaft liegt: Frick. Die Fruchtbarkeit der Böden machte die Landwirtschaft lange zur Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung. Aber auch die seit der Römerzeit wichtige Verbindungsstrasse von Basel über den Bözberg nach Brugg und Zürich bot den Strassendörfern Einkommensmöglichkeiten im Fuhr- und Gastwirtschaftswesen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befand sich die Region, trotz günstiger Voraussetzungen, in einer kritischen Lage. Hatte zum Beispiel ein Reisebericht von 1844 noch die vielen schönen steinernen Häuser in Hornussen gerühmt, diese wohl als Zeichen bescheidenen Wohlstands wertend, zeigte sich danach drückende Armut. Es dominierten kleinbäuerliche Betriebe, die wenig effizient wirtschafteten. Durch Erbteilung wurden die Parzellen immer kleiner und lagen auch immer weiter verstreut, was oft lange Anmarschwege zu den Feldern zur Folge hatte. Es war aber nicht nur die betriebswirtschaftliche Ineffizienz, welche der bäuerlichen Bevölkerung zu schaffen machte. Einerseits wurde die Schweizer Landwirtschaft durch billige Getreideimporte aus dem Ausland in einen ruinösen Preiskampf getrieben. Andererseits erlebte der Weinbau im oberen Fricktal, der eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Einnahmequelle für viele Bauern war, eine Katastrophe. Drei dramatische Veränderungen setzten ihm zu: Da waren einmal die Trinksitten, die sich wandelten. Vor allem in den Städten mit ihrer immer wohlhabenderen Mittelschicht bevorzugte man nun erlesene ausländische Tropfen anstatt einheimischer saurer Landweine. Dann kam es zu einer Reihe von klima- und wetterbedingten ungünstigen Ernten. Und schliesslich waren da noch die Schädlinge. Die Reblaus, der Mehltau und der Traubenwickler breiteten sich aus. Folglich brach die Weinproduktion regelrecht ein. In Hornussen wurden zum Beispiel 1908 1500 Hektoliter Wein geerntet, 1921 waren es dann noch klägliche 153 Hektoliter – eine Abnahme um 90 Prozent in 13 Jahren!
Andernorts konnten landwirtschaftlicher Wandel und Niedergang durch die Industrialisierung aufgefangen werden, arbeitslose Bauern wurden zu Fabrikarbeitern (auch wenn das anfänglich den wenigsten passte). Nicht so im oberen Fricktal: Die Industrialisierung, die neue Arbeitsplätze vor Ort hätte schaffen können, blieb weitgehend aus. Zwar wurde 1875 die Bözbergbahn fertiggestellt, und viele erhofften sich davon den Anschluss an die neue, moderne Welt. Aus diesem Grund beteiligten sich etwa die Gemeinden finanziell an der Bahn. Doch die Hoffnung, damit Industriebetriebe anzulocken, war vergebens. Der Aufschwung blieb aus. Immerhin erhielt Hornussen als Belohnung für seine finanzielle Beteiligung eine Bahnstation.
Um das Überleben