Peter Arengo-Jones

Queen Victoria in der Schweiz


Скачать книгу

DER VERLUST ALBERTS, DES PRINZGEMAHLS, UND ZEHN JAHRE TIEFER TRAUER

      Der Tod Prinz Alberts, der im Dezember 1861 mit nur 42 Jahren starb, war ein tragischer Schicksalsschlag für Victoria. Bei einem Besuch in Cambridge, wo er dem fehlgeleiteten Edward, Prinz von Wales, die Leviten lesen wollte, erkrankte Albert, wie man lange meinte, an Typhus; vermutlich handelte es sich aber eher um Morbus Crohn. Von da an sah die Königin in Edward immer die indirekte Ursache für Alberts allzu frühen Tod. Dieser dritte Wendepunkt im Leben der Königin war ein Schicksalsschlag, von dem sie sich, wenn überhaupt, immer nur partiell erholte und nie so sehr, dass sie ihre schwarze Kleidung abgelegt und das entsprechende Umfeld verlassen hätte. Sie war zutiefst erschüttert; von der extrovertierten, lebensfrohen Königin war nichts mehr übrig.

      Nachdem sämtliche Bemühungen, die Königin aus der Versenkung in ihre private Trauer ins Leben zurückzuholen, gescheitert waren, unternahm man einen anderen Versuch, sie wieder auf die Beine zu bringen, indem man ihren langjährigen Diener John Brown aus Balmoral, ihrem schottischen Rückzugsort, kommen liess, damit dieser bei Ausritten ihr Pony führte. Damit war noch nicht viel erreicht, doch es half, und mit der Zeit wurde Brown zu ihrem unverzichtbaren Kammerdiener, auf den sie sich stützte, um sich immer sicher zu fühlen. Es gibt keinen unumstösslichen Beweis für eine körperliche Beziehung. Auch in ihrem Tagebuch finden sich nur Ausdrücke ihrer Wertschätzung für ihn, wie etwa «mein Freund und loyalster Diener» oder «der aufrichtige Brown», und nicht mehr. Ihr ganzes Leben lang neigte die Königin dazu, lieber auf der Seite einfacher Menschen ohne Privilegien zu stehen, in deren Gesellschaft sie sich wohler fühlte als bei den oft arroganten Reichen und Mächtigen.

      Anfang 1868 war es bereits einige Jahre her, dass Königin Victoria begonnen hatte, Pläne zu schmieden, zur Erinnerung an Albert in die Schweiz zu reisen und dort von der kräftigenden Luft der Berge zu profitieren. Doch die Hindernisse wurden immer grösser. Ein neuer Premierminister kam ins Amt und die parlamentarischen Auseinandersetzungen nahmen so sehr zu, dass Neuwahlen angesetzt wurden und der Sturz der Regierung wahrscheinlich wurde. Auch die öffentliche Kritik an ihrer zurückgezogenen Lebensweise ausserhalb Londons ebbte nicht ab. Trotz dieser massiven Stolpersteine gelang es ihr schliesslich, ihren Urlaub in der Schweiz anzutreten, wovon in den folgenden Kapiteln die Rede sein wird.

      Und wie nicht anders zu erwarten, führte die anberaumte Wahl kurz nach ihrer Rückkehr dazu, dass sie sich gezwungen sah, das Rücktrittsgesuch des sympathischen Premierministers Benjamin Disraeli zugunsten William Gladstones anzunehmen. In seinen Audienzen mit der Königin dozierte Gladstone, als handle es sich um eine öffentliche Versammlung, doch sie musste ihn ertragen, da seine Partei immer wieder die Wahlen gewann. Die Abneigung dauerte bis zu seinem Tod 1898. Ihr einziger Trost war, dass Gladstones liberale Regierungen sich bei den Wahlen mit den Konservativen Disraelis abwechselten. Jahrzehntelang bestimmten diese beiden das politische Geschehen. Gladstone konnte mit seinen Reden bis zu 25 000 Menschen in seinen Bann ziehen und war 1894 im Alter von 84 noch immer Premierminister.

      Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 brachte das Deutsche Reich hervor, dessen Oberhaupt dann später Kaiser Wilhelm II. wurde. Als Sohn «Vickys», der ältesten Tochter Victorias, war Wilhelm ein Enkel der Königin. Doch trotz aller Bemühungen der Queen und Prinz Alberts, mit ihrer weitverzweigten Familie den Frieden in einem weitgehend von ihren Nachkommen regierten Europa zu bewahren, stand Wilhelm an der Spitze jenes Deutschland, das 1914 den Krieg begann. In jenen Jahren lag der Republikanismus in der Luft und führte, unter anderem, 1870 in Frankreich zum Sturz des Dritten Kaiserreichs. In Grossbritannien begannen die 1870er-Jahre damit, dass die Monarchie dank mehrerer Zufälle gewissermassen in letzter Minute gerettet wurde. Im August 1871 erkrankte die Königin an einer gefährlichen Infektion am Arm. Da forderte ein liberaler Abgeordneter das Parlament auf, Königin Victoria abzusetzen und die Republik auszurufen. Parallel hierzu erkrankte Victorias ältester Sohn, der Prinz von Wales, schwer an Typhus. Und kaum ging es ihm besser, da unternahm ein junger Mann den sechsten Anschlagsversuch auf das Leben der Queen. All dies zusammen führte zu einer Welle der Sympathie für die Monarchie und liess die republikanische Stimmung deutlich abflauen.

      Von da an erfreute die Monarchie sich zunehmender Sympathie und Popularität. In der Operette «The Pirates of Penzance» von Gilbert und Sullivan, die 1879 am Silvesterabend Premiere feierte, gibt es eine Szene, in der nichts die Piraten dazu veranlassen kann, sich der Justiz auszuliefern, bis man sie auffordert: «In the name of the Queen, we charge you – yield!» («Im Namen der Königin: Wir fordern Sie auf – ergeben Sie sich!»). Sie singen: «We yield, we yield, with ready mien, for with all our faults we love our Queen» («Wir ergeben uns, wir ergeben uns, bereitwillig mit frohem Herzen, denn trotz all’ unserer Fehler lieben wir unsere Königin»).

      1872–1887 POLITISCH BEDEUTSAMSTE JAHRE – ENGLAND AUF DEM GIPFEL SEINER MACHT

      Dies war der Zeitraum, in dem die Königin in jeder Richtung besonders grosse politische Aktivitäten entfaltete. Im Parlament gab es heftige Debatten über die Autonomie der Iren. Ferner wurde das Wahlrecht, welches bis anhin nur gut situierten Bürgern vorbehalten war, zum ersten Mal allen Briten gewährt. Das Reich und seine Handelsrouten wurden erweitert. 1875 gelang es Disraeli für Grossbritannien, einen Hoheitsanspruch am Suezkanal zu erwerben. Typisch für ihn legte er der Königin den Vertrag mit überschwänglicher Geste metaphorisch zu Füssen und sagte: «Ist erledigt. Er gehört Ihnen, Ma’am.» Am 1. Mai 1876 wurde die Königin von Grossbritannien und Irland gleichzeitig zur Kaiserin von Indien ausgerufen. Indien war das Gravitationszentrum des mächtigen Britischen Reiches, das Grossbritannien zu einer Weltmacht werden liess.

image

      Die Königliche Familie und ihre europäischen Beziehungen. Königin Victoria inmitten ihrer Kinder und deren Ehepartner, 1897. Druckgrafik nach einem Gemälde von K. Lotzmann.

      1887–1901 THRONJUBILÄEN – GROSSMUTTER EUROPAS UND KAISERIN VON INDIEN

      Das goldene Thronjubiläum 1887, das an den 50. Jahrestag der Herrschaft der Königin erinnerte, und das diamantene Thronjubiläum 1897, der 60. Jahrestag, wurden in der ganzen Welt mit grosser Begeisterung gefeiert. Dabei handelte es sich nicht nur um eine Loyalitätsbekundung, sondern um den Ausdruck echter Sympathie für die Person der Königin und des Stolzes (in einigen anderen Ländern, denen es an der Stabilität einer solchen Institution fehlte, sogar des Neides) auf das, wofür sie stand.

      Damals war der Zenit des weltweiten Einflusses und der Macht Grossbritanniens erreicht. Die französische Zeitung Le Monde verglich das Britische Empire beeindruckt mit dem Alten Rom. Doch am Horizont des Reiches zogen bereits Wolken auf, und überdies begannen andere Länder, vor allem die USA, aufzuholen.

      In diesen letzten Jahren wurde die Ruhe der Queen auch durch die Sorgen wegen des Burenkrieges in Südafrika erschüttert, wobei diese eher ihren loyalen Soldaten galt als der Frage nach der Berechtigung des Krieges: Sie unterstützte den Ausbau des Imperiums nicht, zog es aber vor, das einmal Erlangte zu behalten.

      Ungeachtet all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit gab Königin Victoria schliesslich dem Jahrhundert, das mit ihr endete, ihren Namen. An ihrem Lebensende hatte sie ihr Glück in dem Wissen gefunden, dass ihr Volk sie liebte, wie ihre Jubiläen und ihre anderen öffentlichen Auftritte so deutlich zeigten.

      Im Januar 1901 starb sie 81-jährig in Osborne. Nachdem sie selbst nach dem Tod ihres geliebten Albert so tief und lange getrauert hatte, verfügte sie nun, dass es bei ihrer eigenen Beisetzung kein Schwarz, sondern nur Weiss, Gold und Lila geben sollte.

      Sie hatte jene schlichte Lebensweise erreicht, um die sie sich während vieler Jahrzehnte bemüht hatte. Sehr selten konnte sie diese geniessen – am ehesten aber in der Zeit, da sie es am dringendsten benötigte: in der Zeit ihrer tiefsten Trauer, als sie Sorgen aller Art plagten, nämlich während jener Wochen, die sie 1868 im Kreise der Familie verbrachte und sich an der Pracht und den Schönheiten der Schweiz erfreute.

Teil eins