Alexander Grass

Durchschlag am Gotthard


Скачать книгу

Der Autoverlad am Gotthard bringe einen Zeitverlust von drei Stunden und koste 32.60 Franken für den Transport eines Autos mit Fahrgästen. Die einzige befriedigende Lösung sei der Bau eines Strassentunnels.

      Die Gebrüder Gruner schlugen einen 15,1 Kilometer langen Strassentunnel zwischen Göschenen und Airolo vor. Sie planten sechs Ventilationsschächte, berechneten Saug- und Druckventilatoren, die sie auf eine Spitzenlast von 150 Fahrzeugen pro Stunde auslegten. Die Tunneleingangsstation in Göschenen sollte eine Tankstelle mit Reparaturwerkstätte und Garagen enthalten. Die Autoren veranschlagten für den Bau achtzig Millionen Franken. «Die jährliche Lohnsumme für Angestellte, Arbeiter und Hilfspersonal beträgt inkl. 6 % für Versicherung und 10 % für soziale Hilfe aufgerundet ca. 200 000 Franken.» Der Tunnel sollte durch eine private, eventuell halbstaatliche Gesellschaft betrieben werden, die ihr Kapital durch Tunnelgebühren von zwanzig Franken pro Fahrzeug verzinsen und amortisieren könnte. Eduard Gruner argumentierte mit dem ausserordentlich starken Wachstum des Strassenverkehrs. 1910 gab es in der Schweiz 7249 Motorfahrzeuge, 1930 waren es schon 17 Mal mehr, 124 676 nämlich. Gruner rechnete nach zwanzig Betriebsjahren mit 319 400 Fahrzeugen pro Jahr im Tunnel. Ein unbekannter Leser des Dokuments notierte neben Gruners Zahlen mit Rotstift: «vermutlich eine Null zu viel!». Der Kritiker hatte sich getäuscht. 2017 fuhren 6 469 291 Fahrzeuge durch den Strassentunnel.

image

      Erstes Gotthard-Strassentunnelprojekt von Eduard und Georg Gruner im Jahr 1935: «Perspektivische Darstellung einer Tunneleingangsstation» mit Tankstelle, Werkstatt, Sonnenterrasse und Raststätte.

      Doch damals, im Jahr 1939, gab es noch kaum Verkehrszahlen, auch nicht am Gotthard. Die Bahn verlud im Jahr 1937 9324 Wagen, das seien neun Mal weniger Fahrzeuge als von den Gebrüder Gruner angenommen, stellte ein Kritiker des Projekts fest.2 «Auch die Autoverkehrs-Bäume wachsen nicht in den Himmel, ja sogar: ihre Wachstums-Intensität nimmt derart ab, dass wir uns einem Sättigungspunkt nähern.» Der Sport- und Tourenwagenfahrer wolle immer neue Strecken nehmen, wolle über Pässe fahren und nicht durch Tunnel. Auch anderswo in den Schweizer Alpen entstanden Strassentunnelpläne. 1937 stellte das Ingenieurbüro Simmen & Hunger das erste Strassentunnelprojekt am San Bernardino vor.3 Gemäss einem Vorschlag von 1936 sollte einer der beiden Simplon-Bahntunnels für Autos geöffnet werden. Die Befürworter eines Mont-Blanc-Tunnels hofften auf 100 000 Wagen im Jahr, am Simplon sprach man von 150 000 zahlenden Autolenkern.4

      Der Bundesrat dachte bei seiner Strassenplanung aber nicht an Verkehrszahlen, sondern an Arbeitslose. Der Ausbau der Alpenstrassen sollte Arbeitsplätze bieten für die notleidende Bergbevölkerung.5 Von den 105 000 Arbeitslosen im Jahr 1936 entfielen 50 000 auf das Baugewerbe, und auch dieses wollte der Bundesrat mit Strassenbauprojekten stützen. Darum wurde die Gotthardstrasse 1936 ausgebaut – die Kosten beliefen sich auf zehn Millionen Franken auf der Tessiner Seite und auf fünf Millionen im Kanton Uri.

      Der zweite Anlauf 1938

      Paul Hosch veröffentlichte 1938 das zweite Gotthard-Strassentunnelprojekt. «Der Gotthard Auto Tunnel, seine einfachste Lösung» lautete der Titel seiner sechzig Seiten langen Studie, die nicht nur in deutscher und französischer, sondern auch in italienischer und englischer Sprache publiziert wurde. «Die starke Betonung der Achse Rom–Berlin und die für die Schweiz wichtige Frage, Gotthard oder Brenner, stellt eine baldige Lösung deutlich in den Vordergrund. Obwohl jeder Alpenpaß zu seiner Untertunnelung ruft, steht der Gotthard an erster Stelle. Die gleichen Ueberlegungen, die seinerzeit zum Ausbau seines Saumpfades zur Straße und später zum Bau der Gotthardbahn und des Gotthardtunnels geführt haben, gelten heute immer noch und erst recht wieder. Er ist und bleibt der zentralste und daher wichtigste Alpenübergang.»6

      Der Bau von Verkehrstunnels biete keine Schwierigkeiten mehr, einzig das in den Autoabgasen enthaltene Kohlenmonoxid sei gefährlich. Das Besondere an Hoschs Projekt: Der Bahntunnel sollte als Frischluftkanal dienen. «Die Einbeziehung des bestehenden Bahntunnels ist das Geheimnis der bedeutend kürzeren Erstellungszeit und Einsparung von rund der Hälfte der Erstellungskosten.» Der sofortige Bau des Strassentunnels sei eine nationale Pflicht: «Seiner Durchführung steht keine technische Schwierigkeit, aber die gewaltige Macht unserer Bahnen entgegen. […] Die Furcht, in die Belange der Schweizerischen Bundesbahnen einzugreifen, muß überwunden werden; sie gehören uns.» Bis im Jahr 1941 könne der Autotunnel eröffnet werden. Die Baukosten betrügen 48 Millionen Franken. Dank einer Durchfahrtsgebühr von 20 Franken werde der Tunnel zu einem Geschäft. Ein Risiko gebe es nicht. Jedes Zögern sei unbegründet. Hoschs Entwurf fand keine Zustimmung, nicht einmal bei Vertretern des Strassenverkehrs. Die Automobil-Revue nannte Hosch in einem Leitartikel einen «Reissbrett-Phantasten».7

      Der dritte Anlauf 1938

      Den dritten Anlauf zum Bau eines Strassentunnels unternahm der Tessiner Staatsrat.8 Getrieben von einer wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Krise, richtete er am 5. Dezember 1938 ein Forderungspaket an den Bundesrat. In den «Nuove rivendicazioni ticinesi» verlangte die Tessiner Kantonsregierung mehr Subventionen für die Landwirtschaft, Massnahmen zur Förderung der italienischen Landessprache, die Senkung der Bergtarife der Gotthardbahn, aber auch den Bau einer wintersicheren Strassenverbindung am Gotthard. Eine Autobahn Berlin–Rom sei im Gespräch. Der Gotthard laufe Gefahr, an Bedeutung zu verlieren gegenüber der Brenner-Strecke und dem Mont-Blanc-Autotunnel; er müsse ausgebaut werden, um gegenüber der ausländischen Konkurrenz bestehen zu können. Die Tessiner Kantonsregierung forderte eine ganzjährig offenstehende Strassenverbindung, einen Autotunnel also.

      Dank des schnellen und preisgünstigen Autotransports solle die Tessiner Industrie wachsen können, gleichzeitig werde die Abhängigkeit des Kantons vom Tourismus kleiner. Die Tessiner Kantonsregierung legte vier Projekte vor, mit denen die besonders lawinengefährdete Tremolaschlucht untertunnelt werden sollte.9 Die Tunnels sollten zwischen 3175 und 3900 Meter lang werden, das Südportal aller Varianten war beim Rifugio di Tremola auf 1688 Meter über Meer geplant, gut 500 Höhenmeter über Airolo. Die nördlichen Tunnelportale waren an der Nordseite des Gotthardpasses vorgesehen, sie sollten auf 1925 bis 2040 Meter über Meer liegen.

image

      Vier Tunnelvarianten aus den Tessiner «Nuove rivendicazioni ticinesi» von 1938.

      Die Antwort des eidgenössischen Oberbauinspektorats vom 21. Juni 1939 war kurz.10 Ein Basistunnel Göschenen–Airolo scheide von vornherein aus, weil er volkswirtschaftlich nicht gerechtfertigt werden könne. Ein höher gelegener, kürzerer Scheiteltunnel könne nur erwogen werden, wenn die Schöllenenschlucht und die Tremola verkehrssicher seien. «Die unwirtliche Schöllenenschlucht ist Lawinen und Schneeverwehungen in besonderem Masse ausgesetzt.» Und die Tremola sei ein ausgesprochenes Schneeloch, das im Winter nicht zu bewältigen sei. So seien dort Felsgalerien nötig, die durchprojektiert werden müssten. «Die Kosten dieser Massnahme und jene des alsdann noch für die Unterfahrung der Passhöhe erforderlichen Scheiteltunnels werden in Vergleich zu setzen sein mit den Kosten, welche für eine gleichwertige Verbesserung der Transportmöglichkeiten von Automobilen durch den Gotthardtunnel der Bundesbahnen aufzuwenden wären.»

      1939 begann der Zweite Weltkrieg, und die Tunneldiskussionen gerieten in Vergessenheit. Erst im Dezember 1943 kam die offizielle Antwort des Bundesrats auf die Tessiner Forderungen, die fünf Jahre zuvor an ihn gerichtet worden waren.11 Was die Gotthardstrasse anbetreffe, so käme eine finanzielle Beteiligung des Bundes nur in Zusammenhang mit dem Ausbau der Alpenstrassen infrage. Die entsprechenden Kredite seien aber nicht nur ausgeschöpft, sondern bei Weitem überzogen worden.

      Der vierte Anlauf 1948

      Drei Jahre nach Kriegsende folgte Anlauf Nummer vier zum Bau eines Strassentunnels. «Ein gigantisches Zukunftsprojekt» titelte die Schweizerische allgemeine Volkszeitung.12 Der Tunnel solle ein Beweis sein für eine unabhängige, tatkräftige Schweiz: Eine Skizze zeigte stromlinienförmige