was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.
Dieses Leben hier gleicht fürwahr der Hölle in den Augenblicken des Schreckens; mehr noch aber für die Täter als für die Opfer: »Wer nicht liebt, bleibt im Tod. Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Mörder, und ihr wisst: Kein Mörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt.« (1 Joh 3,14b f.) Wer aber dieses ewige Leben leugnet, der gibt – mag er sich auch an Mitleids- und Beileidsbekundungen überbieten – das Leben der Opfer dem Tod preis, dem Höllendasein, das den Mördern winkt, ja, dass schon hier und jetzt ihrem Hass entspricht. Aus diesem Grunde ist eine theologische Deutung des Daseins, der Geschichte hier und jetzt, nicht eine Frage des Bekenntnisses, gar einer subjektiven Lesart. Vielmehr weist sie über das Spektrum der Meinungen und tagespolitischen Ereignisse hinaus auf den Gesamtzusammenhang der Geschichte, der diesseits der Theologie gar nicht fassbar ist, wie Benjamin in einer weiteren Aufzeichnung zu Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts vermerkt (GS V.1, 608):
Der echte Begriff der Universalgeschichte ist ein messianischer. Die Universalgeschichte im heutigen Verstande ist eine Sache der Dunkelmänner.
Nicht weniger als in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist auch heutzutage Aufklärung im Lichte der Offenbarung geboten – Aufklärung, wie sie Benjamin im Passagen-Werk (GS V.1, 578) avisierte:
Formulierung von Ernst Bloch zur Passagenarbeit: ›Die Geschichte zeigt ihre Marke von Scotland-Yard. 〈ʿ〉 Es war im Zusammenhang eines Gesprächs, in dem ich darlegte, wie diese Arbeit – vergleichbar der Methode der Atomzertrümmerung – die ungeheuren Kräfte der Geschichte freimacht, die im ›Es war einmal‹ der klassischen Historie gebunden liegen. Die Geschichte, welche die Sache zeigte, ›wie sie eigentlich gewesen ist‹, war das stärkste Narkotikum des Jahrhunderts.
Und sie ist auch im 21. Jahrhundert das stärkste Narkotikum geblieben, weil sie den Blick auf »die ungeheuren Kräfte der Geschichte« verstellt, die über die Vergangenheit hinaus Tod und Vernichtung, aber auch Rettung und Erlösung bedeuten. Denn wenn es bei der Geschichte einzig darum ginge, festzustellen, »wie sie eigentlich gewesen ist«, so muss man kein Theologe sein, um ihrer rein historischen Bestimmung mit Misstrauen zu begegnen. So befindet bereits Nietzsche in einem Brief (vom 23. Februar 1887) an den befreundeten Kirchenhistoriker Franz Overbeck (KGB, Bd. III.5, 28):
Zuletzt geht mein Misstrauen jetzt bis zur Frage, ob Geschichte überhaupt möglich ist? Was will man denn feststellen? – etwas, das im Augenblick des Geschehens selbst nicht »feststand«?–
Denn das Geschehen enthüllt seine Bedeutung allein im Zusammenhang des Ganzen, letzthin von seinem Ende her. In diese Richtung weist eine weitere Aufzeichnung Benjamins zum Passagen-Werk (GS V.1, 589):
Über die Frage der Unabgeschlossenheit der Geschichte Brief von Horkheimer vom 16. März 1937: »Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen … Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das jüngste Gericht glauben … Vielleicht besteht in Beziehung auf die Unabgeschlossenheit ein Unterschied zwischen dem Positiven und dem Negativen, so daß nur das Unrecht, der Schrecken, die Schmerzen der Vergangenheit irreparabel sind. Die geübte Gerechtigkeit, die Freuden, die Werke verhalten sich anders zur Zeit, denn ihr positiver Charakter wird durch die Vergänglichkeit weitgehend negiert. Dies gilt zunächst für das individuelle Dasein, in welchem nicht das Glück, sondern das Unglück durch den Tod besiegelt wird.« Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, daß die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft »festgestellt« hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.
Das mag für den Historiker zutreffen, der sich nicht mit einer bloßen Rekonstruktion des Vergangenen begnügt. Doch das Theologische wird ja nicht von außen an die Geschichte herangetragen: Ob bei dem jüngsten Terror islamischer Fanatiker in Paris oder bei der Vernichtung der Juden in Auschwitz, ja, selbst bei der Deutung des Ersten Weltkriegs als eines apokalyptischen Geschehens durch Karl Kraus wie in seinem monumentalen Werk Die letzten Tage der Menschheit – hier handelt es sich nicht um bloße Metaphern als vielmehr um ein Geschehen von wahrhaft apokalyptischem Ausmaß.
Denn auch das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung Jesu Christi (vgl. Offb 1,1), mag reich an Metaphern sein, deren Bedeutung selbst einem versierten Interpreten bisweilen Rätsel aufgeben; gleichwohl ist es kein Bilderbuch, an dem sich der Leser erbauen kann. Es deutet vielmehr die Geschichte im Lichte des auferstandenen und erhöhten Messias und der Wiederkunft Christi, nicht bloß als eine Serie von Katastrophen, sondern als Anbruch und Vollendung des neuen Äons. Nicht allein um die Frage der Abgeschlossenheit oder Unabgeschlossenheit von Glück und Leid geht es, wie in den Überlegungen Max Horkheimers. Ebenso wenig um eine bloße Modifikation der Wissenschaft in Form des Eingedenkens, so ehrenvoll dieses auch ist. Es geht letzthin um die Gerechtigkeit für die Opfer, die für die Geschichte abgeschrieben sind, insofern sie von der Geschichte nichts zu erhoffen haben. Wenn ihnen eine Hoffnung bleibt, so allein im Sinne einer messianisch begriffenen Universalgeschichte (vgl. GS V.1, 608) die Hoffnung auf den kommenden Christus und den kommenden Gott (Offb 1,7 f.):
Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch alle, die ihn durchbohrt haben; und alle Völker der Erde werden seinetwegen jammern und klagen. Ja, amen. Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung.
Insofern sich seit dem ausgehenden Mittelalter selbst in der Christenheit der Blick immer weniger auf den kommenden Gott richtete, hat im Zuge der Säkularisierung der Mensch seine eigene Gerechtigkeit gesucht – ob in der Autonomie menschlicher Freiheit, der Eigengesetzlichkeit der Geschichte im Sinne von Hegels Dialektik des Historischen, des Fortschrittsgedankens, von Nietzsches Willen zur Macht oder einfach in revolutionärer Gewalt, die dem Unrecht ein Ende bereiten sollte. Am Ende freilich, in einem Zeitraum von nahezu einer einzigen Generation, ein wahrhaft apokalyptisches Finale mit zwei Weltkriegen und Massenmorden, wie sie die Geschichte, so leidvoll sie sein mochte, bis dahin nicht kannte.
Allein das verbietet uns, die Geschichte atheologisch zu begreifen, als könnten wir vor ihrem Schuldzusammenhang die Augen verschließen; vor den Verstrickungen des menschlichen Geistes, wie sie sich zumal an Heideggers Philosophie ablesen lassen. Man braucht nur einmal einen Blick auf die groteske Auseinandersetzung der Heidegger-Adepten im Anschluss an die Publikation des vierten Bandes seiner sog. Schwarzen Hefte zu werfen; wenn etwa allen Ernstes behauptet wird, bei seinen antijüdischen Auslassungen handelte es sich lediglich um eine geschichtsphilosophische Aberration, die das phänomenologische Werk des großen Denkers nicht berühre. Wir haben wiederholt, zuletzt in Auferstehung Jesu Christi als messianische Zeugung, in einer minutiösen Analyse dargelegt, dass von seinem frühen Vortrag Der Begriff der Zeit über sein sog. zweites Hauptwerk Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) bis hin zu seiner »Eschatologie des Seyns« ein eiskalter Nihilismus herrscht; eine Verherrlichung des Todes, wie sie selbst Nietzsche nicht kannte. Und wir hätten es dabei belassen, wären wir nicht erst jetzt auf die Aufzeichnung Sima Vaismans gestoßen, die genau diese Todeswirklichkeit beschreibt. Es ist schlechthin absurd, im Sinne des heutigen Zeitgeistes eine sog. Erinnerungskultur zu pflegen, gleichzeitig aber der Herrschaft des Todes zu huldigen, als würde es sich um einen sanften Abschied aus einer glücklichen Menschenwelt handeln, wie sie sich »eine commode Religion« erträumt.
Haben frühere Zeitalter – von der Antike bis hin zum Barock – unter der Macht des Todes gelitten, so scheint ein Großteil der Moderne, von der Postmoderne gar nicht zu reden, mit ihm versöhnt; allenfalls Terroranschläge oder Flugzeugabstürze mögen eine Zeitlang allgemeine Bestürzung hervorrufen. So vermerkt J. J. Bachofen in seiner Unsterblichkeitslehre