align="left">Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit Gott
Eine Frucht der Aggression ist die Liebe
Literaturverzeichnis
Vorwort
Das Phänomen „Aggression“ hat mich persönlich schon immer interessiert und spielt in meiner pastoraltherapeutischen Arbeit eine wichtige Rolle. Mein besonderes Anliegen war und ist es, Aggression nicht nur negativ im Sinne von zerstörender Gewalt zu sehen, sondern auch als Lebensenergie und beziehungsstiftende Kraft. So entstand 1999 mein Buch „Aggression stiftet Beziehung“, das leider aus verschiedenen Gründen trotz großer Nachfrage nicht mehr neu aufgelegt wurde. Die Nachfrage ist immer noch groß und das Thema „Aggression“ sehr aktuell. So habe ich mich auf vielfachen Wunsch entschlossen, dieses neue Buch „Aggression, zerstörend oder lebensfördernd“ zu schreiben. Dabei habe ich Teile aus dem ersten Buch aktualisiert und bearbeitet übernommen, vieles ergänzt und neu geschrieben. Wenn man die Literatur der letzten 20 Jahre zum Thema Aggression anschaut, wird deutlich, dass das Wort „Aggression“ in unserem Sprachgebrauch immer noch überwiegend negativ verstanden wird.
Man verbindet mit diesem Begriff in der Alltagssprache Gewalt, Wut, Hass, Streit und Krieg und spricht in diesem Zusammenhang abwertend von einem „Aggressor“, dem Anstifter und Täter der Schädigung. Ausdrücke wie „vor Wut schäumen“, „vor Zorn explodieren“, „jemand an die Gurgel gehen“, „eine Mordswut haben“, „jemand umlegen“, „jemand fertigmachen“ verstärken diese einseitig negative Deutung.
Aggressionen wirken sich auch psychosomatisch aus und zeigen entsprechende Reaktionen. Wem ist nicht schon einmal vor Wut „der Kamm geschwollen“ oder wer hat nicht schon „eine Stinkwut“ gehabt und „rot gesehen“ bis hin zu der zornigen Regung „Ich könnte dich umbringen“. Den Aggressionen scheint eine Kraft innezuwohnen, die den Menschen „zum Tier“ werden lässt. „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ („homo homini lupus“). Der weltweite Terror, die globalen kriegerischen Auseinandersetzungen, die wachsende Gewalt in der Öffentlichkeit und im privaten Leben, über die uns die Medien täglich berichten, verstärken diese Sichtweise und lassen Aggression und Aggressivität in einem schlechten Licht erscheinen.
Dieses einseitige Verständnis von Aggression im Sinne von Feindseligkeit, Gewalt und Zerstörung spiegelt sich auch in der psychologischen Literatur der letzten 30 Jahre wider. Viele Autoren fragen nach den Ursachen der Aggression, schildern deren krankmachende und zerstörerische Folgen für den Menschen und suchen nach Möglichkeiten der Prävention und Reduktion von Aggression und Gewalt (Bierhoff 1998). Es gibt nur wenige Autoren (z. B. Kernberg, Klessmann, Schellenbaum, Tillich, Thompson), die die Aggression ganzheitlich verstehen und ihr lebensfördernde Seiten abgewinnen, um eine langfristige Lösung der Aggressionsproblematik zu finden.
Inzwischen ist man um eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Theologie bemüht. So fragt die Psychologie in ihren verschiedenen Schulen nach den Ursachen des aggressiven, gewalttätigen Verhaltens und findet dort intrapsychische, interpersonale oder auch sozialpsychologische Erklärungsansätze. Bei extremen Formen von Gewalt in politischen und religiösen Denksystemen und Ideologien, wie z. B. in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus, im IS-Staat, in den aktuellen Kriegen in Syrien, im Irak, in Afrika oder bei den Völkermorden in Burundi oder im ehemaligen Jugoslawien, spielen noch andere Ursachen und Beweggründe eine wichtige Rolle. So z. B. die Tatsache, dass in solchen Fällen die Gewalttäter von ihren Vorgesetzten und ihrer Umgebung nicht bestraft, sondern für ihre Brutalität gelobt und befördert werden.
Wenn Skinheads und neonazistische Banden Ausländer, Flüchtlinge oder Andersgläubige misshandeln, töten (NSU), Häuser anzünden, Ferienlager überfallen und Friedhöfe schänden oder der IS die Enthauptung und Verbrennung von Gefangenen in den Medien zeigt, dann setzen sie die traditionellen ethischen Maßstäbe und Menschenrechte außer Kraft. Ihre Gewalttaten entstammen einer selbstgeschaffenen Ideologie mit entsprechenden Regeln und Prinzipien. „Ohne Rücksicht auf Verluste“ setzen sie diese um, und sei es, dass sie dafür „über Leichen gehen“ müssen. Dabei wird der Einzelne von der Verantwortung suspendiert: Er kann beliebig töten und Gewalt ausüben im Namen der Ideologie bzw. der Gruppierung, für die er kämpft. Bei den Nationalsozialisten wurde der Holocaust mit Begriffen wie „Kristallnacht“ oder „ethnische Säuberung“ beschönigt. Auf diese Weise wurde versucht, der hier ausgeübten Gewalt mit ihrer Massenvernichtung den Stachel des Anstoßes und Ärgernisses zu nehmen. Eine ähnliche Wendung ins Gegenteil geschieht im sogenannten Heiligen Krieg des IS, wo jede Gewalt und Brutalität „im Namen Allahs“ erlaubt ist, bis hin zur Selbsttötung, die noch durch das Versprechen des Paradieses schmackhaft gemacht und geheiligt wird.
Bei den hier auftauchenden Fragen nach Ideologien, nach religiösen Motivationen oder nach dem zugrunde liegenden Menschenbild ist die Psychologie auf die Zusammenarbeit mit der Philosophie und Theologie angewiesen. So fragt die Anthropologie nach der ursprünglichen Bedeutung von Aggression, die neben den zerstörenden auch die lebensfördernden und beziehungsstiftenden Kräfte der Aggression beinhaltet. Weiter fragt die Anthropologie nach den geistesgeschichtlichen Wurzeln und nach der Entwicklung des Phänomens „Aggression“ in unserer Kulturgeschichte, die u. a. zu dem heutigen, einseitigen Verständnis von Aggression beigetragen hat.
In diesem Buch werden die psychologischen, die anthropologischen und religiösen Fragestellungen berücksichtigt. Einerseits stütze ich mich dabei auf mehr als 1000 Lebensskripts von religiös sozialisierten Frauen und Männern, die sich in Einzelberatung und in Gruppen mit ihren Erfahrungen mit Aggressionen und Beziehungen auseinandergesetzt haben. Anderseits werden anthropologische Grundfragen nach dem Ursprung, der Bedeutung und dem Stellenwert von Aggression und Beziehung im menschlichen Leben aus Sicht der christlichen Anthropologie und der biblischen Schöpfungslehre gestellt.
Ein Ziel dieses Buches ist, das einseitig negative Verständnis von Aggression zu überwinden und positiv zu ergänzen. Wir bringen Aggressionen nicht automatisch mit Gewalt in Verbindung, sondern verstehen Aggression zunächst neutral als Lebensenergie, die sowohl lebensfördernd als auch zerstörend eingesetzt werden kann.
Für christlich orientierte Menschen, die glauben, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen wurde, ist der innere Lebenskern, aus dem der Mensch seine aggressiven Kräfte schöpft, heil und gut. Jeder Mensch vermag letztlich in Freiheit über sein Handeln und den Einsatz seiner aggressiven Energien zu entscheiden und trägt dafür persönlich die Verantwortung. Die mir geschenkten Lebensenergien kann ich also in den Aggressionen lebensfördernd und beziehungsstiftend, aber auch zerstörend und schädigend einsetzen, sei es in der Beziehung zu mir selbst, in der Beziehung zu anderen Menschen, zur Umwelt und zu Gott. In diesem immer wieder neuen Entscheidungsprozess ist die ignatianische Unterscheidung der Geister ein wichtiges Instrument, um einen konstruktiven Umgang mit meinen Aggressionen zu lernen und gute und heilsame Beziehungen zu gestalten (vgl. Ignatius von Loyola, 81 ff. und 127 ff.).
Wir verstehen also Aggressionen in diesem Buch als Lebenskraft des Menschen, als Lebensenergie, die der Mensch für sich und andere verwenden kann. So ist Aggression nicht mehr nur ein Gegen-Einander, sondern kann genauso gut die Richtung des Auf-einander-Zu von Menschen sein. Das gilt trotz der meist negativen Elternbotschaften in den untersuchten Lebensgeschichten, die wir über Gefühle im Allgemeinen und Aggressionen im Besonderen in der religiösen Erziehung mitbekommen haben.
Da das Thema Aggression und Beziehung sehr komplex und vielschichtig ist, können wir in diesem Buch nur ausgewählte Aspekte berücksichtigen. Von dieser Vielfalt, die sich in unseren Aggressionen und Beziehungen verbirgt, erzählt eine chinesische Weisheits-Geschichte.
Einen Weisen im alten China fragten einmal seine Schüler: Du stehst nun schon so lange an diesem Fluss und schaust ins Wasser. Was siehst du denn da?
Der Weise gab keine Antwort. Er wandte den Blick nicht ab von dem unablässig dahinströmenden Wasser. Endlich sprach er:
Das Wasser lehrt uns, wie wir leben sollen. Wohin es fließt, bringt es Leben und teilt sich aus an alle, die seiner bedürfen. Es ist gütig