Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten


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TABELLARISCHE DARSTELLUNG DER WOHNORTE UND LEBENSDATEN DER GESCHWISTER SCHNYDER

TABELLARISCHE DARSTELLUNG DER WOHNORTE UND LEBENSDATEN DER GESCHWISTER SCHNYDER

Karte

      Alle Wege führen über Zofingen und Bischofszell, dichtere Vernetzungen finden sich auch in Basel, Bern und Zürich. In allen Lebensläufen taucht ein Aufenthalt in der französischen Schweiz auf, bei einigen gibt es auch Auslandaufenthalte. Während einige Biografien fast parallele Lebenswege aufzeigen (Martha und Rosa sowie erste Stationen im Leben von Karl und Walter), finden sich vor allem in den Lebenswegen von Hedwig, Sophie und Karl Stationen, die sich mit keinem der Geschwister kreuzen.

      Die oben stehende Karte visualisiert Knotenpunkte und wichtige Verbindungsstrecken und kennzeichnet die Orte, die abgelegen von den familiären «Ballungszentren» liegen.

      Die Hauptverbindungen zwischen den Geschwistern entsprechen den Hauptlinien des schweizerischen Eisenbahnnetzes. Bern, Basel, Zürich und Zofingen liegen dabei im Zentrum. Die Städte des Mittellandes wiesen eine hohe Erreichbarkeit aus, umliegende Gemeinden wie Horgen waren, gerade im Raum Zürich, komfortabel erschlossen.34 Auch Bischofszell war durchaus erreichbar, wurde doch die Lokalbahn Sulgen–Bischofszell–Gossau bereits 1876 eröffnet. Allerdings wurden erst 1910 bessere Anschlüsse an grössere Streckennetze durch den Bau der Bodensee-Toggenburg-Bahn (BTB) von Romanshorn über St. Gallen nach Wattwil und die Mittelthurgau-Bahn (MTB, 1910) von Wil über Weinfelden nach Konstanz eröffnet.35 Nebenlinien wie die Toggenburg-Bahn büssten neben den hoch frequentierten Hauptlinien an Bedeutung ein.

      Abgelegen für die Geschwister war der im Graubünden liegende Ort Küblis, an welchem ausser Karl keines je wohnte. Trotz dem stark ausgebauten Eisenbahnnetz kann noch 1880 keineswegs von einer Massenmobilität gesprochen werden. Man zählte in diesem Jahr gerade mal 25 Millionen Bahnfahrgäste, das entsprach neun Fahrten pro Einwohner.36 «Bis 1910 schnellte die Zahl der Reisenden auf 240 Millionen oder 65 Fahrten pro Kopf hoch.»37

      Interessant ist, dass mit der verstärkten Mobilität auch der schriftliche Informationsaustausch dichter wurde. So beförderte die Schweizer Post 1850 noch 16 Millionen Briefe oder im Mittel sieben Schreiben pro Einwohner, während es 1910 schon 290 Millionen Sendungen waren oder 78 Briefe pro Kopf.38 Der Brief wurde zu einem Kommunikationsmittel, das dank Taxverbilligungen und pünktlichen Versandzeiten dem Mitteilungsbedürfnis einer grösseren Bevölkerungsschicht entgegenkam.39 Allerdings beschränkte sich dieses Kommunikationsbedürfnis vor allem auf den urbanen Raum. «Allein in der Stadt Zürich gingen 1910 mit über 52 Millionen Briefen mehr Sendungen ab als in den Kantonen St. Gallen, Thurgau und Schaffhausen zusammen. Nach wie vor war der Brief ein vorab urbanes Massenkommunikationsmittel, das in den breiten und insbesondere ländlichen Bevölkerungsschichten selten Verwendung fand.»40 Sowohl die bessere Erreichbarkeit durch ein dichtes Eisenbahnnetz als auch das starke Wachstum des Briefverkehrs sind Voraussetzungen für das Funktionieren des Geschwisternetzwerks. Moderne Transportmittel beeinflussten die Beziehungen der Geschwister nachhaltig. Abgelegene Orte konnten mit Briefen erreicht werden, wodurch sich die Distanz verringerte.

       ERNST SCHNYDER

      Ernst Schnyder kam 1873 als erstes Kind von Johannes Schnyder und Luise Schnyder-Peyer im Pfarrhaus in Fehraltorf im Zürcher Oberland zur Welt. Im Alter von sieben Jahren zog er mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern 1880 nach Zofingen, wo noch im gleichen Jahr seine Mutter starb. Ein Jahr später heiratete der Vater Caroline von Wyttenbach, eine 27-jährige Lehrerin, die an der Neuen Mädchenschule in Bern unterrichtete. Zu den fünf Kindern der verstorbenen Mutter kamen acht Kinder der Stiefmutter hinzu, von welchen sieben überlebten. Ernst wuchs in dieser «long family» auf, einer für das Ende des 19. Jahrhunderts ziemlich typischen Familienform.41 Die sinkende Kindersterblichkeit und unveränderte Familienplanung führten im 19. Jahrhundert oft zu grossen Kinderzahlen. Besonderes Merkmal einer solchen Familie mit langer Geschwisterfolge ist, dass die älteren Kinder eine eigene Generation zwischen den Eltern und den jüngsten Kindern bilden. Ernst war 24 Jahre älter als sein jüngster Bruder Walter. Die «Zwischengeneration» übernahm oft Eltern- oder Patenfunktionen.

      Nach seiner Konfirmation in Zofingen 1888 kam Ernst nach Basel, wo er das Gymnasium besuchte. Darauf folgte das Theologiestudium, 1891 zunächst in Neuenburg, dann in Basel und Berlin. Die Vikariatszeit verbrachte er zum grössten Teil in der Gemeinde seines Vaters in Bischofszell, wohin die Grossfamilie inzwischen gezogen war. 1898 trat er seine erste Pfarrstelle in Nesslau an. Er heiratete 1906 die Pfarrerstochter Luise Brenner und folgte 1910 einem Ruf an die Kirchgemeinde St. Johann in Schaffhausen. Zwischen 1908 und 1921 kamen fünf Töchter zur Welt. 1929 starb Luise Schnyder-Brenner an einem Herzschlag. Die Tochter Margrit «wurde mein liebes Hausmütterchen und vertrat für die kleine Martha Ruth Mutterstelle».42

      In Schaffhausen bekleidete Ernst Schnyder während über 20 Jahren das Amt des Kirchenratspräsidenten, gründete und leitete den Blaukreuz Verein Schaffhausen, stand der Evangelischen Gesellschaft vor und amtete sowohl als Präsident des Missionsvereins Schaffhausen als auch als Präsident der Heimatgemeindevertretung der Basler Mission.43 Er blieb bis weit über seine Pensionierung in der Kirchgemeinde Schaffhausen tätig und starb 1961 im Alter von 88 Jahren. Er überlebte seine früh verstorbene Frau um 32 Jahre.

      

4 Ernst Schnyder mit seinen fünf Töchtern, Schaffhausen 1932.

      4 Ernst Schnyder mit seinen fünf Töchtern, Schaffhausen 1932.

       LILLY SCHNYDER

      1874 kam Maria Schnyder zur Welt. Lilly, wie sie genannt wurde, zog mit ihren Geschwistern mit sechs Jahren von Fehraltorf nach Zofingen, wo sie 1889 konfirmiert wurde. Sie blieb bis 1891 zu Hause und half der Stiefmutter mit ihren zu diesem Zeitpunkt sechs Kindern unter zehn Jahren und drei Jugendlichen im grossen Pfarrhaus. 1891 kam sie in Colombier im Welschland in Pension. Daraufhin absolvierte sie während drei Jahren an der Neuen Mädchenschule in Bern das Lehrerinnenseminar und wurde 1894 als Lehrerin nach Bischofszell gewählt. Während ihrer Amtszeit als Lehrerin lebte sie gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Tante und den zu Hause weilenden Geschwistern. 1924 trat sie aus gesundheitlichen Gründen von ihrem Amt zurück und übergab ihre Stelle der jüngsten Halbschwester Paula. Die letzte Zeit ihrer Krankheit verbrachte sie in einem Heim. 1932 starb sie 58-jährig an den Folgen ihrer nicht näher beschriebenen Krankheit.

      

5 Lilly Schnyder, um 1900.

      5 Lilly Schnyder, um 1900.

       HEDWIG SCHNYDER

      1875 brachte Sophie Schnyder-Peyer ihr drittes Kind, Hedwig, zur Welt. Wie ihre zwei älteren Geschwister durchlief sie in Zofingen Primar- und Bezirksschule. Nach der Konfirmation 1891 wurde sie in ein Welschlandjahr in einer Pension im Val de Travers geschickt. Ein zusätzliches Jahr in einer Fortbildungsklasse in der Neuen Mädchenschule in Bern schloss Hedwigs Bildungsweg ab. Dann zog sie hinaus in die Welt und war zunächst vier Jahre Hauslehrerin in Orthez in den Pyrenäen, einige weitere Jahre in Augsburg. Nach dem Tod des Vaters 1901 kehrte Hedwig zurück und half über vier Jahre lang daheim aus. Dann übernahm sie eine Stelle in einer reichen Florentiner Familie als Erzieherin zweier Kinder, deren Mutter gestorben war. Nach 17 Jahren Dienst in dieser Familie musste die Gouvernante sich von ihrer Stelle trennen. Sie nahm nun die noch umfassendere Aufgabe als Hausdame der Casa Crespi in Mailand an. Hier galt es, eine Schar von zwölf Bediensteten zu beaufsichtigen und zu betreuen. «Ausserdem widmete sie sich der Erziehung