sind, war für diese Debatte bedeutend. Die Vorstellung der weissen Mittelklasse-Studentin, was Emanzipation bedeute, war weit von den Wünschen und Bedürfnissen der emigrierten Putzfrau entfernt. Rosi Braidotti hebt in «Nomadic Subjects» besonders zwei Punkte der «Politics of Location» hervor: «1. Um nicht Gefahr zu laufen, die Differenzen unter Frauen zu übersehen, muss transparent gemacht werden: Wer ist das schreibende Ich? Wo ist dieses angesiedelt? Wer ist gemeint, wenn der Terminus ‹wir› verwendet wird? 2. Damit klar ist, dass ich nicht als ‹Mensch› spreche, sondern als Person, die zu einer bestimmten Gruppe gehört, muss ich mein Sprechen als ein historisches und gruppengebundenes Sprechen sichtbar machen.»66 Auch Sandra Harding, die Ende der 1980er-Jahre die Frage einer feministischen Methode ausführlich diskutiert hat, betont die Wichtigkeit der sichtbaren forschenden Person im Zusammenhang mit der Forderung wissenschaftlicher Objektivität: «Thus the researcher appears us not as an invisible, anonymous voice of authority, but as a real historical individual with concrete, specific desires and interests. [...] Introducing this ‹subjective› element into the analysis in fact increases the objectivity of the research and decreases the ‹objectivism› which hides this kind of evidence from the public.»67 In den 1990er-Jahren entwickelt die feministische Theoretikerin Donna Haraway den Ansatz der «Politics of Location» weiter. In ihrer Kritik einer Wissenschaft, die sich objektiven Ansprüchen verpflichtet, ohne die eigene beschränkte Sicht mit in Betracht zu nehmen, verweist sie auf unser jeweiliges In-einer-Situation-Sein als Forschende und schreibt: «Feminist objectivity is about limited location and situated knowledge.»68 Mit diesem Begriff plädiert Haraway für Wissenschaft jenseits von binären Systemen, im Sinn einer exakten und genauen Positionierung der eigenen Wahrnehmung und Umgebung in Bezug zu derjenigen der erforschten Themenkreise. «I am arguing for politics and epistemologies of location, positioning, and situating, where partiality and not universality is the condition of being heard to make rational knowledge claims. These are claims on people’s lives; the view from a body, always a complex, contradictory, structuring and structured body, versus the view from above, from nowhere, from simplicity.»69
Den Ort, von dem aus ich als Forscherin spreche, werde ich während der Arbeit nicht dauernd reflektieren. So interessant das Projekt wäre, es führte zu einer zu komplexen Textflut, bei welcher die Geschichten der zwölf Geschwister stark in den Hintergrund rückten. Meine Methode ist es, meinen Standpunkt im Voraus sichtbar zu machen. So können sich die Leserinnen und Leser bei der Lektüre eine Person vorstellen, die aus einer bestimmten Perspektive und Motivation schreibt: die Enkelin eines Mannes, der der Jüngste in einer grossen Geschwisterreihe war. Ein Nachkomme einer Familie, in welcher die Tradierung von Familiengeschichte eine bedeutende Rolle spielte. Mit diesem Wissen mag das Gelesene immer wieder in ein Verhältnis gesetzt werden. Zum Schluss der Arbeit komme ich auf die dialogische Situation der historischen Arbeit zurück. Die Beschreibung der dynamischen Prozesse zwischen Fragestellung und Text, Lesen und Schreiben, mündlichem Anekdoten-Erzählen und schriftlichen Quellen, meiner eigenen Erfahrung und den Erinnerungsstrukturen meiner Sippe bildet die Auswertung der vorliegenden Studie. Die Veränderungen und Varianten der Erzählungen kontextualisieren die schriftlichen Quellen, die Interviews und meine narrative Arbeit als forschende Person.70
GESCHICHTE ALS KUNST DER TEXTINTERPRETATION
Die wissenschaftliche Arbeit von Historikerinnen und Historikern ist die Interpretation von Quellen und deren schriftliche Darstellung. Bei der Interpretation der Quelle gilt es sorgfältig zu überprüfen, wer zu wem spricht und in welcher Absicht gesprochen wird. Auch ist wichtig, welche Sprache verwendet wird, ob sie dem jeweiligen Medium entspricht, ob Brüche entstehen und was diese bedeuten. Auch die Umstände der Produktion liefern wichtige Informationsfaktoren auf der Suche nach den Stimmen von Frauen und Männern innerhalb ihrer möglichen Handlungsfelder und innerhalb bestimmter Mentalitäten.71 Zu welchem Zweck wurde der Brief, das Tagebuch, das Gedicht geschrieben?72 Es ist von Belang, ob ein Schreiben an mehrere oder an nur eine Person gerichtet ist oder gar an sich selbst.
Die Quellen sind gleichzeitig Konglomerate verschiedener Diskurse. Bücher und Zeitungen, Zeitschriften und Verse, Bibeltexte und Lieder, die die schreibende Person gelesen hat, prägen Stil und Inhalte. Sie bilden den Rahmen, in welchem das Sagbare stattfindet. Der Text zeigt mir aber nicht nur die Diskurse, die der schreibenden Person dieser Zeit zur Verfügung standen, sondern auch, worüber diese Person zu ihrer Zeit nicht schreiben konnte oder wollte. Was schrieb die junge Lehrerin und Pfarrerstochter um 1914, was schrieb sie nicht? Verwendete ihr Bruder, Pfarrer einer Gemeinde, dieselbe Sprache? Brauchten die Geschwister jeweils unterschiedliche sprachliche Register, je nach dem, an wen sie schrieben? Innerhalb dieses Systems von Bedeutungen und Texten ist es wichtig, meine eigene zeitliche Distanz zu den Texten zu reflektieren und zu überlegen, welche Bedeutungen und Inhalte die Texte durch mein eigenes Lesen erhalten.73
DIE MATERIALITÄT DES TEXTES
Nicht zu vernachlässigende Informationen enthält die Materialität einer Quelle. Eine Postkarte hat einen anderen Informationsradius als ein Brief, der auf ein liniertes Papier geschrieben wurde. Was bedeuten die unterschiedlichen Quellen in ihrer Erscheinungsform – auch im Bezug auf die Wichtigkeit, die ihnen von den historischen Akteuren zugeschrieben wurden? Tagebücher enthalten Bilder oder liebevoll eingeklebte Blumen und Gräser. Gedichtsammlungen wurden in herzförmige Büchlein übertragen, deren Einbände man in hübsche Stoffe schlug.
Die gleichen Gedichte finden sich aber auch in Schreibmaschinenabschriften wieder. Sowohl die Materialien, mit welchen die Gedichte veredelt wurden (schöner Stoffeinband mit besonderer Form), als auch deren wiederholte Erscheinung in verschiedenen Abschriften – vor allem in späteren Jahren in Schreibmaschine – betonen, wie wichtig diese Texte für die historischen Akteure selbst waren. Dagegen sind Briefe oft auf einfachem, liniertem Papier geschrieben. Sie sind momentanes Kontakt- und Kommunikationsmittel. Zu Geburtstagen wird durch die Menge des Geschriebenen die Besonderheit des Anlasses betont. Erste schreibmaschinengeschriebene Briefe in den 1920er-Jahren ernten Lob und Bewunderung. In den 1940er-Jahren entschuldigen sich die Männer bereits, wenn sie sich nicht mit der Maschine an ihre Geschwister wenden. Die Briefe wurden oft in einem Doppel aufbewahrt, damit man noch wusste, worauf sich die Antwort im Rückbrief beziehe. Diese «Materialität des Textes» möchte ich als historisch bedeutende Komponente mit in die Analyse der Quellen einbeziehen.74 Die historischen Akteure waren sich der Materialität ihrer Briefe durchaus bewusst, wie das folgende Zitat der Chefsekretärin Sophie sichtbar macht: «Während dem Üben kam mir in den Sinn, dass ich Dir den ersten Teil dieses Briefes jetzt schreiben wollte aus verschiedenen Gründen: 1. Geht es eben entschieden schneller mit der Maschine als von Hand, wobei ich immer das Gefühl habe, als ob mir die Hand zitterte in letzter Zeit, weil ich so selten und eigentlich nicht mehr gern Schreibschrift von Hand schreibe, Steno oder Debatten sehr gern; 2. Habe ich dann ein besseres Duplikat, als ich jedenfalls dann vom Tintenbleistift bekommen werde, denn mit Tinte kann ich keinen Durchschlag machen und es ist für Dich wenigstens dieser Teil des Briefes leichter leserlich.»75
2 Auszug aus Sophie Schnyders Tagebuch, 1926.
Sophie reflektierte sowohl die veränderten Produktionsbedingungen beim Schreiben als auch die Bedeutung, die dem Geschriebenen beigemessen wird, und setzte ihr Schreiben und das gewählte Material gezielt ein. Diese Tatsache soll – sofern immer möglich – in ...der Interpretation der Quellen berücksichtigt werden.
Ich werde im Folgenden vier Textformen vorstellen, welche mir hauptsächlich als Quellen der Geschwister dienen: Brief, Tagebuch, Memoiren und Gedicht. Während sowohl von den Schwestern als auch von den Brüdern Briefe überliefert sind, liegen von den Männern nur Memoiren, von den Frauen dagegen Gedichte und Tagebücher vor
DER BRIEF – BEZIEHUNGSNETZE UND FEHLENDE STIMMEN
Der weitaus grösste Teil der vorliegenden Quellen besteht aus Briefen. Diese wurden zu unterschiedlichen Zwecken geschrieben: Zur