Ursache von Krankheiten zu bestimmen: das Bakterium.4 Der naturwissenschaftliche Anspruch der Medizin im 19. Jahrhundert ging mit einem neuen Selbstverständnis der Ärzte einher: Sie sahen sich als Vertreter der «wahren Wissenschaft» und nahmen die Medizin nicht mehr wie früher als Kunst wahr.5 Methoden der Naturwissenschaften ersetzten die spekulative Naturbetrachtung. Führende Mediziner verpflichteten sich kausalem Denken und leitenden Theorien.6 Auch die Herausgeber des Correspondenz-Blatts für Schweizer Aerzte forderten die Ärzte 1885 dazu auf, als Diener der Aufklärung vermehrt in die Öffentlichkeit zu treten und die «wissenschaftliche Medicin» gegenüber abergläubischen «Volksmitteln» zu stärken. Dies sollte auch mit Artikeln in der Tagespresse gemacht werden.7
Der grosse gesellschaftliche Wandel des 19. Jahrhunderts verhalf der Medizin zu einer neuen Rolle. Der Nationalstaat etablierte sich, die Industrialisierung veränderte die Gesellschaft, es vollzog sich eine «Verwissenschaftlichung des Alltags».8 Säkulare Denkmuster gewannen gegenüber dem theologischen Weltbild seit der Aufklärung an Bedeutung – auch in der Frage der Gesundheit, für welche wohlhabend gewordene Bürger es sich nun leisten konnten, Geld auszugeben. Für sie wurde Gesundheit ein wichtiger Teil der richtigen und vernünftigen Lebensführung.9 Medizin und Ärzte stiessen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine zunehmende Nachfrage.10 Denn das naturwissenschaftliche Verständnis der Medizin, welches Leben und Körper des Menschen einer rationalen Kalkulation zugänglich machte und die Leistungsfähigkeit zu optimieren versprach, entsprach dem bürgerlichen Denken der Zeit. Diese sich verändernde Rolle der Medizin bildet den Rahmen, in dem die Ärzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts agierten. Ärzte wurden, was Gesundheitsfragen betraf, in dieser Zeit in Staat und Gesellschaft tonangebend. Aufgrund dieser Voraussetzung vermochten sie auch die Tuberkulosetherapie zunehmend zu prägen. Und dies obwohl die neue, naturwissenschaftliche Medizin den Patientinnen und Patienten vorderhand einiges schuldig blieb: Als in ihrem Selbstanspruch auf das Heilen gerichtete Disziplin vermochte sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur wenige therapeutische Erfolge vorzuweisen. Gerade in der Bakteriologie waren diese, verglichen mit den Resultaten der medizinischen Grundlagenforschung, bescheiden.11
Im Zuge dieser sogenannten Medikalisierung konnten sich die akademischen Ärzte Anfang 19. Jahrhundert noch gegen hoch angesehene Heilkundige wie Bader, Barbiere und Handwerkschirurgen durchsetzen.12 Um den eigenen Berufsstand zu schützen und zu stärken, setzten Ärzte auf die Professionalisierung, insbesondere auf die Regulierung der Ausbildung. In der Schweiz des 19. Jahrhunderts erfolgte dieser Prozess lange Zeit auf der Ebene der Kantone.13 Der 1848 gegründete Bundesstaat wurde erst 1877 mit einem Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Medizinalpersonen direkt gesetzgeberisch tätig. Standesorganisationen förderten in Zusammenarbeit mit den Kantonen das Fortkommen der ärztlichen Profession. 1870 gründeten verschiedene Deutschschweizer Ärztegesellschaften den «Ärztlichen Centralverein», während französisch sprechende Ärzte schon 1867 eine eigene Vereinigung gegründet hatten. Eine nationale medizinische Standesorganisation, die heutige Verbindung Schweizerischer Ärzte (FMH), entstand erst 1901.14 Ärztinnen hatten damals im Berufsleben einen schweren Stand, obwohl Schweizer Universitäten vergleichsweise früh Frauen zum Studium zuliessen (Zürich 1867, Genf und Bern 1872).15 Das zeigt etwa ein im Correspondenz-Blatt abgedrucktes Protokoll einer Sitzung der Zürcher Ärztegesellschaft im Dezember 1883: Die Aufnahme einer Ärztin in die Gesellschaft scheiterte in der Abstimmung deutlich.16 1890 gab es in der Schweiz insgesamt 1530 Ärzte. Darunter waren nur 10 Frauen.17 Bei damals insgesamt knapp drei Millionen Einwohnern in der Schweiz kamen auf 10 000 Menschen 5,2 Ärzte. Im Vergleich zu heute waren die Menschen damit weit weniger mit ärztlichem Wirken konfrontiert. Die heutige Ärztedichte ist wesentlich höher: 2014 betrug sie 21,6 Ärzte pro 10 000 Einwohner.18
Die Tuberkulose und die Diätetik
Die Tuberkulose war um 1900 die häufigste Todesursache. Das Correspondenz-Blatt veröffentlichte 1883 eine Mortalitätsstatistik, gemäss der im Jahr 1882 von 10 000 Einwohnern 33,7 an Lungenschwindsucht starben.19 Damit stellte die Lungentuberkulose von den aufgeführten Todesursachen die mit Abstand bedeutendste dar. Neben «Lungenschwindsucht» waren lange Zeit weitere Bezeichnungen für Lungentuberkulose gebräuchlich: Das griechische «Phthisis», welches insbesondere Ärzte verwendeten, ausserdem «Auszehrung», «weisse Pest» oder – im englischen Sprachraum – «Captain of All These Men of Death».20 Gleichzeitig war unter Ärzten lange Zeit umstritten, welche Krankheitsbilder zur Tuberkulose zählten. So unterschied Rudolf Virchow (1821–1902), der Gründer der Zellularpathologie, zwischen der eigentlichen Tuberkulose, bei der die charakteristischen Tuberkel, also knötchenförmige Gewebeveränderungen, auftraten, und der Phthise, einer «verkäsenden», gewebezerstörenden Pneumonie.21 Mit der Entdeckung des Tuberkulosebakteriums durch Robert Koch im Jahr 1882 konnten Krankheitsbilder, welche vorher verschiedenen Krankheiten zugeordnet worden waren, nun auf eine einzige Ursache, den Tuberkelbazillus, zurückgeführt werden.22 Es zeigte sich, dass die Tuberkulose verschiedene Organe befallen kann, am häufigsten jedoch die Lunge. Sie wird durch Tröpfcheninfektion, das heisst durch die Hustentröpfchen eines Kranken, übertragen. Ohne Behandlung ist die Lungentuberkulose häufig tödlich. Sie verläuft sehr langwierig: Es kann Jahre dauern, bis der Tod eintritt. Blässe, Abmagerung, Müdigkeit und erhöhte Temperatur treten auf, dazu ein blutiger Husten, wenn die Blutgefässe angegriffen sind. Doch führt nicht jede Infektion mit dem Bazillus zum Ausbruch der Krankheit. Zumeist erfolgt die Erkrankung nur dann, wenn ein Mensch in seiner körperlichen Verfassung und in seinem Immunsystem geschwächt ist.23 Die Tuberkulose kann heute in den meisten Fällen durch Antibiotika geheilt werden. Es treten jedoch zunehmend Probleme mit multiresistenten Bakterien auf, gegen die Medikamente nicht mehr wirken. Die Tuberkulose konnte entgegen früherer Hoffnungen denn auch nicht ausgerottet werden, sondern ist vor allem in ärmeren Ländern weitverbreitet.24 Ab 1985 führte die HIV-Epidemie zu einer deutlichen Zunahme der Tuberkuloseerkrankungen.25 Ungefähr ein Drittel aller Menschen ist gemäss WHO mit dem Tuberkuloseerreger infiziert. 2014 starben 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose.26 Diese Todesfälle sind meist darauf zurückzuführen, dass Menschen in ärmeren Ländern kaum Zugang zu Medikamenten und passender Therapie haben.27 In der Schweiz erkranken heute jährlich rund 550 Personen an Tuberkulose, zumeist sind es Migrantinnen und Migranten.28
Um 1850, als die Tuberkulose auch in Europa und den USA epidemisch war und vielerorts als unheilbar galt, begann ein schlesischer Arzt, deren Heilbarkeit zu propagieren: Hermann Brehmer stellte 1853 in seiner Dissertation die These auf, dass die Tuberkulose in ihren frühen Stadien immer heilbar sei.29 Brehmer nahm ein althergebrachtes medizinisches Konzept zu Hilfe: die antike Diätetik. Diese bildet neben Operation und Medikament den dritten Ansatz medizinischer Therapie und geht davon aus, dass Umweltfaktoren Ursache von Krankheit und Gesundheit sind.30 Ausschlaggebend sind die sogenannten «sex res non naturales», die sechs nichtnatürlichen Dinge: Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlafen, Ausscheidungen, Gemütsbewegungen.31 Da die «sex res» über Krankheit und Gesundheit entscheiden, gilt es, diese günstig zu beeinflussen. So empfahlen die antiken Ärzte Hippokrates und Galen als therapeutische Massnahme einen Wechsel in gesundheitsförderndes Klima.32 Das antike Schema der «sex res» wurde gegen 1800 aufgrund der neuen bürgerlichen Wertschätzung der Gesundheit wieder breit rezipiert und setzte sich im 19. Jahrhundert als konzeptionelle Basis der Hygiene durch. Mit Hygiene ist hier nicht wie heute die von der Bakteriologie geprägte Idee der keimfreien Sauberkeit gemeint, sondern das umfassende Gesundheitskonzept der Diätetik mit den «sex res».33
In der Tuberkulosetherapie des 19. Jahrhunderts setzten Ärzte auf diätetische Massnahmen.34 Verschiedene Mediziner beschrieben die günstige Wirkung, die ein Wechsel in ein als gesund angesehenes Klima auf Kranke mit Lungentuberkulose hatte. Anfänglich empfahlen Klimatherapeuten vor allem milde Klimate am Mittelmeer oder Orte am Seeufer. Die Berge waren hingegen noch kein Thema.35 An den Erholungsorten des Mittelmeers entstanden detaillierte Verhaltensvorschriften für die Kranken zur «Förderung des Wohlbefindens», wie der französische Historiker Alain Corbin schrieb.36