Christian Schürer

Der Traum von Heilung


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heilte.37 Vielfach aufgelegt wurde die Studie des englischen Arztes James Clark, The Sanative Influence of Climate. Er empfahl Tuberkulosekranken den Wechsel in ein mildes Klima («a very powerful remedy»), nebst reichlicher Ernährung und Aufenthalt in frischer Luft.38 Auf diese Elemente setzte auch Hermann Brehmer. Er verband seine Verkündung von Heilung allerdings nicht mit Orten am Mittelmeer. Vielmehr glaubte er, dass die Tuberkulose nur geheilt werden könnte, wenn die Kur an einem hoch gelegenen, «immunen Ort» stattfand. Das waren Orte, an denen die Tuberkulose angeblich nicht vorkam.39 Diese Idee übernahmen die Promotoren der Höhenkur in den Schweizer Alpen.

      Die diätetische Behandlung der Tuberkulose blieb auch im Zeitalter der Bakteriologie lange Zeit wichtig. Reichliche Ernährung, frische Luft und ein ausgewogenes Mass an Ruhe und Bewegung sollten die Abwehrkräfte stärken. Bei Weitem nicht bei jedem, der sich mit dem Tuberkulosebakterium angesteckt hatte, brach die Krankheit aus. 1888 formulierte dies ein Arzt im Correspondenz-Blatt folgendermassen: «Der Bazillus für sich allein macht ja bekanntlich noch keine Lungenschwindsucht, sonst wäre bei dessen Ubiquität nicht zu begreifen, weshalb wir nicht alle, samt und sonders, phthisisch werden sollten.»40 In der Tat war die sogenannte Durchseuchung damals äussert hoch. Dies zeigte eine Untersuchung Otto Naegelis (1871–1938) aus dem Jahr 1900. Anhand von 500 Sektionen am Pathologischen Institut Zürich kam er zum Schluss: «Jeder Erwachsene ist tuberkulös.» Dieses Resultat barg in Naegelis Augen jedoch Trost. Da erfahrungsgemäss nicht mehr als ein Siebtel bis ein Achtel der Menschen der Tuberkulose zum Opfer fallen würden, ergebe sich daraus, dass weitaus die Mehrzahl imstande sei, «den Kampf mit der Tuberkulose siegreich durchzuführen, und die Sturmflut der Bazillen durch die natürlichen Schutzwehren des Organismus einzudämmen und zur Ruhe zu bringen». Naegeli hatte bei 97 Prozent der von ihm sezierten Leichen tuberkulöse Veränderungen entdeckt. Daraus leitete Naegeli ab, dass der «Disposition» eine ungleich grössere Bedeutung als der Infektion zukam.41 Er definierte den Begriff Disposition als anatomisch-physiologische Konstitution, die erst dem Tuberkelbazillus den Boden gebe, auf dem er mit «höchst malignem Charakter um sich greift».42

      Mit dem Aufstieg der Medizin im 19. Jahrhundert erlangten die Ärzte zunehmend Definitionsmacht über Gesundheit und Krankheit. Gleichzeitig veränderte sich das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten.43 Der Arzt verkörperte um 1900 die Wissenschaft und vermochte nun anstelle von Ratschlägen Anordnungen zu erteilen.44 Elementar für diese Entwicklung war die Geburt der Krankenhaus-Medizin, welche die ärztliche Autorität institutionell durchsetzte. Um 1800 hatte sich dies noch anders verhalten: Den Ärzten mangelte es an Expertenautorität, die Klientel, also die Patienten, übten Kontrolle über das ärztliche Handeln aus. Zudem standen die Ärzte sozial unterhalb ihrer vornehmlich wohlhabenden Kunden und waren von diesen ökonomisch abhängig.45 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts konnten sich immer mehr Menschen eine ärztliche Behandlung leisten. Der Markt für medizinische Dienstleistungen vergrösserte sich, obwohl für wirtschaftlich schlechtgestellte Bevölkerungsschichten der Arzt vielfach zu teuer blieb.46 Ein soziales Krankenversicherungssystem wie heute bestand nicht.

      Die neue Rolle der Medizin im 19. Jahrhundert, wie ich sie geschildert habe, wäre ohne die Vermittlung des medizinischen Wissens durch Zeitungen, Zeitschriften und populäre Schriften nicht möglich geworden.47 Die Popularisierung von Wissenschaft und Technik erlebte im 19. Jahrhundert eine Blütezeit, wobei in Gesundheitsfragen Ärzte als Popularisatoren in Erscheinung traten.48 Medizinische Theorien gelangten so zu einem breiten Publikum. In Bezug auf die Leitfrage dieses Buches, warum sich die Höhenbehandlung der Lungentuberkulose durchsetzen und behaupten konnte, untersuche ich primär, wie sich medizinisches Wissen innerhalb des Kreises der Fachleute ausbreitete. Hatten sich die Ärzte nämlich einmal für eine bestimmte Behandlung entschieden, empfahlen sie diese den Patientinnen und Patienten. Das Handeln der Patienten reduzierte sich zusehends auf den Vollzug ärztlicher Anordnungen.49 Die Machtposition der Ärzte gegenüber ihren Patienten ist auch in der heutigen Medizin von strategischer Bedeutung: So ist es für die Pharmaindustrie entscheidend, die Ärzte mittels Rabatten, Honoraren für «Scheinstudien» oder Kongressteilnahmen für eine neue Therapie zu gewinnen.50 Auch für Promotoren der Theorie des heilenden Höhenklimas war es entscheidend, andere Ärzte von ihrer Theorie zu überzeugen. Die Ärzte entschieden vielfach, an welchen Kurort sich Kranke begeben sollten. Dies kommt in einem Artikel in der Kurortszeitung Davoser Blätter von 1876 zum Ausdruck. In diesem wird kritisiert, dass noch zu wenige Ärzte Kranke nach Davos schicken würden. Gemäss dem Artikel war es deshalb entscheidend, mehr Ärzte auf den Kurort aufmerksam zu machen.51

      Als Plattform für die Meinungsbildung boten sich Publikationen wie das Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte an, eine Fachzeitschrift, welche sich an Ärzte und Medizinwissenschaftler richtete. Ins Leben gerufen wurde sie 1871, kurz nach der Gründung des ärztlichen Centralvereins, vom Berner Professor Ernst Klebs (1834–1913). Dieser schrieb in der ersten Ausgabe, dass es Aufgabe der Zeitschrift sei, die «Beziehung zwischen den Vertretern ärztlichen Wissens und Handelns zu pflegen».52 Die Herausgeber wollten also zwischen universitärer Forschung und ärztlicher Praxis vermitteln. Eine Episode aus Flauberts Madame Bovary handelt davon, dass die Ärzte in die Praxis umzusetzen versuchten, was sie in Fachpublikationen gelesen haben: Homais, der Apotheker des Städtchens Yonville, hat «über eine vielgelobte Methode zur Heilung von Klumpfüssen gelesen».53 Er überzeugt nun Charles Bovary, mittlerweile Landarzt geworden, den klumpfüssigen Hippolyte zu operieren. Bovary führt die Operation mithilfe der Fachliteratur durch. Der Aufklärer Homais schreibt daraufhin im Fanal de Rouen: «Trotz der Vorurteile, die noch einen Teil Europas wie ein Netz überziehen, beginnt das Licht doch auch auf unsere ländlichen Gegenden zu fallen. Am Dienstag war unser Städtchen Yonville der Schauplatz eines chirurgischen Eingriffs, der gleichzeitig auch ein Beispiel schönster Menschenliebe darstellt.»54 Doch die Lobeshymne des Apothekers ist verfrüht. Die Operation stellt keinen Erfolg dar, das operierte Bein muss schliesslich amputiert werden.

      Hermann Brehmer verkündet Heilung

      1854 erwarb der Arzt Hermann Brehmer (1826–1889) eine kleine Kaltwasserheilanstalt in Görbersdorf im damals preussischen Schlesien. Die Bewilligung, diese als Heilanstalt für Lungenkranke zu führen, erhielt er fünf Jahre später. Fortan leitete er die erste Heilanstalt, die sich ausschliesslich der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Lungentuberkulose verschrieb. Die Entwicklung, die Brehmers Einrichtung in den folgenden Jahren nahm, war atemberaubend: Nur wenige Jahrzehnte später standen in Görbersdorf Prachtspaläste und Villen zur Behandlung von Patienten mit Lungentuberkulose. Brehmers Behandlungsmethode bildete die Grundlage für die Therapie der Lungentuberkulose in den nächsten 100 Jahren, auch in Schweizer Kurorten oder in den USA.1 Brehmer versprach in seiner Einrichtung nichts anderes als die Heilung der Lungentuberkulose. Dies war aufsehenerregend in einer Zeit, in der bei vielen Ärzten der Glaube an eine erfolgreiche Therapie der Schwindsucht fehlte. «Eine Heilanstalt zu gründen, deren einziges Ziel die Behandlung einer unheilbaren Krankheit war, konnte nur ein Aussenseiter wagen», schreibt der Historiker Flurin Condrau in seiner sozialgeschichtlichen Studie über Lungenheilstätten in England und Deutschland. Zeitlebens habe Brehmer der hämische Spott einiger Kollegen begleitet.2 Ernst von Leyden (1832–1905), Internist und Professor in Berlin, soll ihn in seinen Vorlesungen mit einem gewissen Hohn als «geschäftsgewandten Görbersdorfer ärztlichen Hotelier» bezeichnet haben.3 Jahre später, als die Behandlung nach Brehmers Vorbild in Deutschland und anderen Ländern populär geworden war, amtierte der gleiche Professor von Leyden indes als Lobredner: Anlässlich des 50-jährigen Bestehens von Brehmers Heilanstalten in Görbersdorf bezeichnete er Brehmer als «kühnen Geist», dessen erfolgreiche Heilmethode «den Ruhm und die Anerkennung des Begründers» verkünde.4 Hermann Brehmer war auch der Wegbereiter der Höhenkur, weil er hoch gelegene Ortschaften für die Behandlung der Lungentuberkulose empfahl. In diesem Kapitel wird gezeigt, wie Brehmer der diätetisch-klimatischen Behandlung der Lungentuberkulose zum Durchbruch verhelfen konnte, die