Christoph Benke

Geist & Leben 3/2017


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      Als Dorothea das Licht der Welt erblickt, verhandelt Niklaus, der rund fünfzehn Jahre älter ist als sie und bereits volljährig, schon an der Landsgemeinde über politische Sachgeschäfte mit.6 Bei seiner Heirat mit Dorothea ist Niklaus nahezu dreißigjährig und verehelicht sich damit spät. Sie hingegen ist eine noch junge Frau. Dennoch wusste Dorothea als Tochter eines Ratsherrn wohl früh um das Wesen des gesellschaftlichen Miteinanders und um die damit verbundenen politischen Machenschaften. Ihr Mann wird selber Ratsherr und Richter und ist in der Ausübung dieser Ämter immer mal wieder abwesend. Dorothea obliegt dann, zusammen mit ihren ältesten Söhnen, das Führen des Hofes.7 Sie hält ihrem Mann den Rücken frei, der so der Gemeinschaft wertvolle Dienste erweisen kann und Erfahrungen sammelt, die ihn später als Eremit und gesuchten Ratgeber mit gesunder Distanz auf die Geschehnisse blicken lassen.

      Zwanzig Jahre lang führen die beiden eine Ehe, die ihnen zehn Kinder schenkt und Haus und Hof im gemeinsamen Miteinander blühen lässt. Zeitzeugen beschreiben Dorothea als suberliche junge frowe von gutem Aussehen, religiös, eine fromme husfrowe, tüchtig, umsichtig und ehrbar. Niklaus ist seinerseits ein gestandener Bauer und ein gefragter Mann, gesellschaftlich angesehen und in seinen Ämtern erfolgreich. Ein Ratschlag des späteren Eremiten an einen jungen Burgdorfer lässt vermuten, dass er mit Dorothea gerne zu Tanze ging.8 Um 1465 allerdings legt er alle seine politischen Ämter nieder. Er gerät in eine Krise und ringt die nächsten zwei Jahre mit sich und seiner Berufung. „Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass in diesen Jahren der langjährige Konflikt zwischen dem erfolgreichen äußeren Lebensweg als Ehemann, Vater, Bauer und Ratsherr und dem inneren Lebensweg als Gottsucher, Fastender und Beter zu einem geradezu gewaltsamen Ausbruch kam und nach einer definitiven Lösung verlangte.“9

       Niklaus‘ Krise

      Die Krise ist nicht einfach eine Midlifecrisis – zumal Niklaus da schon 50 Jahre zählt und für das Spätmittelalter ein alter Mann ist – und auch kein Burnout, obschon Familie, Hof und politische Verantwortung ihn vielseitig fordern und insbesondere die ernüchternden politischen Entwicklungen ihn zunehmend belasten. Was sich da Bahn bricht, ist das innerste Sehnen nach dem „einig Wesen“, wie Niklaus es nennt, einem Leben ganz mit und in Gott. Diese Sehnsucht ist in seinem Leben nicht neu. Seine früheren Kameraden berichten davon, dass er bereits als Junge die Stille suchte und schon früh regelmäßig fastete. Auch Dorothea ist damit vertraut, dass Niklaus sich gerne zurückzieht zum Gebet, tagsüber in den Ranft, des Nachts aus dem ehelichen Bett in die Wohnstube zum warmen Ofen, wo er sich innigst dem Gespräch mit Gott hingibt. Die Quellen berichten ausführlich von diesem seinem Wesenszug und davon, dass er sich in der Krise und in seiner Not an den befreundeten Priester Heinrich Amgrund wendet, der ihm dazu rät, in täglichen Gebetszeiten regelmäßig das Leiden Christi zu betrachten. Anfänglich hilft das dem Ringenden, aber schnell wird deutlich, dass die klösterlichen Gebetsrhythmen, die Niklaus dafür wählen soll, unvereinbar sind mit den Aufgaben und Pflichten eines Bauern und Familienvaters. Der zunehmende Konflikt droht, ihn zu zerreißen.

       Dorotheas Ringen

      Wie Dorothea zu Niklaus Glaubensleben stand, wie sie sein Ringen erlebte, was sie selber dabei empfand, dazu ist nichts schriftlich festgehalten. Wir wissen wenig über diese Frau und nichts über ihr Innenleben. Allerdings ist eine Aussage von Niklaus überliefert, die ein Licht darauf wirft, dass Dorothea sich mit der Sehnsucht ihres Mannes auseinandersetzte und ihn schließlich freigab, seiner inneren Stimme und dem Ruf Gottes zu folgen. Niklaus lässt seinen Freund Erni Anderhalden wissen, dass ihm drei Gnaden zuteilwurden: die erste, dass er von seiner Frau und (!) seinen Kindern die Erlaubnis zum Einsiedlerleben erhielt, die zweite, dass es ihn niemals dazu drängte, von dieser Lebensweise abzuweichen und wieder zurückzukehren, und die dritte, dass er ohne zu essen und zu trinken leben konnte.10

      Wie kommt Dorothea zu ihrem Ja? Was kostet es sie, Niklaus zu dem werden zu lassen, wonach es ihn im Innersten drängt? Was empfindet sie bei dem Gedanken, dass sie und die Kinder Niklaus möglicherweise daran hindern, sein gottgegebenes Leben zur Vollendung zu bringen? Wie wird Dorothea frei von ihren Erwartungen und Ansprüchen und wie wird sie frei für eine Liebe, die sich nicht an Bedingungen knüpft? Denn das ist es, wovon die Beziehungsgeschichte der beiden erzählt, eine Liebe, die sich nicht an Lebensumständen festmacht und die einander lässt, um sich erst recht zu gewinnen.

      Dorothea lässt Niklaus ziehen: Nicht in den Ranft zunächst, sondern als Pilger, der gewillt ist, ins Ausland zu wallfahren. Niklaus trifft dafür die nötigen Vorkehrungen, regelt seinen Nachlass und übergibt den Hof seinen ältesten Söhnen, die fortan zusammen mit Dorothea nach dem Rechten zu sehen haben. Am 16. Oktober 1467 verlässt er Frau und Kinder und macht sich auf den Weg Richtung Basel und Burgundische Pforte. Allerdings kommt er nicht weit. Kurz vor Liestal kehrt er, von Visionen geleitet, um und gelangt heimlich zurück ins Flüeli, von seiner Familie unbemerkt. Erst Tage später entdecken ihn Jäger und nach erneutem Ringen lässt Niklaus sich im Ranft nieder, wo Freunde ihm schließlich eine Kapelle und eine Klause bauen, nur wenige hundert Meter von seinem früheren Wohnhaus und seiner Familie entfernt.

       Dorotheas mehrfaches Ja

      Wie muss das für Dorothea gewesen sein? Nach erfolgtem, wohl schmerzlichem Abschied, der kaum mit einem Wiedersehen rechnete, kehrt Niklaus nur wenige Tage später zurück, meidet aber den Kontakt mit der Familie und versteckt sich in der Wildnis. Einmal mehr ringt er um die Zukunft und um die Form, in der er seine Berufung voll und ganz leben kann. Und einmal mehr betrifft dieses sein Ringen und die Lösung, die er schließlich findet, auch seine Frau Dorothea existentiell. Ganz nah ist Niklaus nun, und doch so fern. Was war es, das diese Beziehung getragen hat über alle innere und äußere Distanz hinweg? Was ließ Dorothea immer wieder neu zum Ja zu diesem Mann finden? Die Fragen an Dorothea lassen sich aus den historischen Quellen nicht beantworten. Das regt dazu an, aus heutiger Sicht mögliche Antworten darauf zu versuchen. Zwei wesentliche Dinge mache ich aus, die für Dorothea grundlegend gewesen sein mochten und die auch in unsere heutige Zeit und Gesellschaft zu sprechen vermögen.

      Das eine ist ihr persönliches Profil. Der Zeit gemäß und wie schon erwähnt, stand der Mensch des 15. Jhs. erst am Anfang davon, das eigene Ich zu entdecken bzw. sich selbst mehr und mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Maßgebend war nach wie vor das Gemeinwohl und das größere Ganze, nach eigenen Interessen und Bedürfnissen wurde selten gefragt. Dorothea ist da Kind ihrer Zeit. Ihr Streben gilt dem Wohl der Familie und der unmittelbaren Dorfgemeinschaft. Sie versteht sich in diesem Sinne als Dienstleisterin, die dafür auch Entbehrungen in Kauf nimmt, z.B. dann, wenn Niklaus seinen Amtspflichten nachkommen muss und dafür zu Hause fehlt. Sie ist als Mensch hauptsächlich auf ein Gegenüber ausgerichtet, das für ihr Handeln maßgebend ist. Dieser Wesenszug, der nicht sich selbst, die eigenen Bedürfnisse und den persönlichen Gewinn in den Mittelpunkt stellt, kommt auch in der Auseinandersetzung mit Niklaus zum Zug. Dorothea sagt mehrfach „Ja!“ zu ihrem Mann. Ihr Zuspruch gilt sowohl dem ehrbaren und wohlhabenden Bauern Niklaus von Flüe als auch dem angesehenen und geschätzten Richter und Schlichter. Und ihr Ja gehört auch Niklaus, dem tief gläubigen Mann. Das Ja, das er in seiner Lebenswende von Dorothea wünscht, verlangte ihr wohl alles ab. „Die Erschütterung zu sehen, die über dich kam, und gleichzeitig dein Müssen, dieser Moment unserer beider Erkenntnis, dass wir uns lassen mussten, um neu zueinanderzufinden – das weckte meine Liebe zu dir in solch unbändiger Weise, dass ich in dem Moment wusste, es würde nichts geben, was uns trennen könnte, nichts, was von dieser Welt war. Und was von Gott kam, das führte uns nur näher zueinander, selbst wenn das Trennung hieß. In jenem Moment fand ich zu einem unerwartet neuen Ja – das Ja zu Bruder Niklaus, der du nun werden konntest.“11 Dorothea erkennt in ihrer Liebe zu Niklaus sein innerstes Sehnen und es gelingt ihr, die Erfüllung seiner Berufung höher zu gewichten als alles andere. Damit lebt sie, was Papst Franziskus als eine der Freuden der Liebe benennt: Das größte Werk der Liebe sei, dem und der anderen zu helfen, das Beste in seiner und ihrer Person zu entfalten.12

      Die bewegte Ehegeschichte von Niklaus und Dorothea zeigt aber auch, „dass sich nicht selbst vernachlässigt, wer sich auf ein Du ausrichtet (…) In Niklaus‘ Krisenzeit wird auf berührende Weise deutlich, wie sehr die eigene Bestimmung im gemeinsamen Leben noch deutlicher