Niklaus‘ Rat oder wohnte den Gottesdiensten bei, die in der Ranftkapelle gehalten wurden. Dass es ihr möglich war, Bruder Niklaus zu begegnen, ohne dabei nach ihrem Mann zu suchen, spricht für eine bedingungslose Liebe, die die beiden in der Freiheit des je andern unzertrennlich verband.
Das zweite wesentliche Element und tragendes Fundament hinter dieser Freiheit ist der Glaube, den die beiden miteinander teilten. Dorothea und Niklaus verstehen sich nicht nur familiär und gesellschaftlich als Teil eines größeren Ganzen, sondern unterstellen sich als seine Geschöpfe der noch viel umfassenderen Wirkkraft Gottes. Zwar emanzipieren sich die Menschen im 15. Jh. zunehmend auch religiös, für Niklaus und Dorothea aber bleibt Gott eine feste Größe in ihrem Leben. Friede ist stets in Gott, sagt Niklaus, und so kann, was von ihm kommt, nur Gnade sein. Die Haltung, die Dorotheas Freiwerden begründet, orientiert sich letztlich an den Ratschlägen Jesu für ein gelungenes Leben in Fülle. Ins heute übersetzt geht es dabei um zulassen (Gehorsam), loslassen (Armut) und sich einlassen (Jungfräulichkeit).14
Dorothea lässt los: Niklaus, der sich als Pilgernder aufmacht ins Ungewisse. Sie lässt zu, dass er unerwartet wieder kommt und als Eremit in den Ranft zieht. Und sie lässt sich ein: auf ihren Mann, der als Bruder aller Menschen ihr neu verbunden ist – fernnah. Der gemeinsame Glaube trug Dorothea und Niklaus beide im Durchleben, Verarbeiten und Neugestalten ihrer Geschichte: „Ihr persönliches und gemeinsames Leben, das Niklaus neu als Bruder und Dorothea weiterhin als Mutter gestaltet, erscheint in höherem Licht als Teil einer größeren Geschichte: Was die beiden loslassen, riskieren und neu finden, erscheint als in Gottes Händen gehalten, gewahrt und neu gefügt.“15
1Pilgernde aus Deutschland und Österreich gehen in „die Ranft“. Die ungewohnt weibliche Form entstand wohl als Abkürzung von Ranft-Schlucht. Die Flurbezeichnung Ranft ist sowohl im lokalen Dialekt wie im Schweizer Hochdeutsch männlich: der Ranft. Das männliche Wort Ranft – mittelhochdeutsch „ramft“ und in der alemannischen Schweiz noch immer so ausgesprochen – bezeichnet nach J. / W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1971, allgemein entweder (1) die Rinde von einem Gebäck oder (2) die Kruste auf einem Acker nach starkem Regen, (3) den Schorf einer Wunde oder (4) den Uferrand eines Gewässers (Band 14, Sp. 90).
2 Zum 600-Jahr-Jubiläum vgl. den offiziellen Gedenkband R. Gröbli / H. Kronenberg / M. Ries / T. Wallimann-Sasaki (Hrsg.), Mystiker. Mittler. Mensch. 600 Jahre Niklaus von Flüe. Zürich 2016.
3 Vgl. z.B. den Artikel von S. Stam, auf https://www.kath.ch/newsd/jubilaeum-soll-bruder-klaus-nach-zuerich-basel-und-paris-bringen (Stand: 10.01.2017).
4 Die Eidgenossenschaft formierte sich im 13. Jh. aus den ländlichen ‚Orten‘ bzw. Talschaften von Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug und Glarus sowie den Stadt-‚Orten‘ Luzern, Zürich und Bern zum Bund der Acht Orte. Bis zu Dorotheas Tod wächst sie um Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen und Appenzell zum Dreizehnörtigen Staatenbund.
5 Vgl. R. Gröbli, Mystiker. Mittler. Mensch, in: ders. (Hrsg.), Mystiker. Mittler. Mensch, 23–25 [s. Anm. 2].
6 Die Landsgemeinde versammelte jeden Frühling die wehrfähigen Männer, um in einer offenen Auseinandersetzung alle wichtigen Fragen zu besprechen und demokratisch zu entscheiden.
7 Dazu C. Sasaki, Frauen des Mittelalters mit abwesenden Männern: Dorothee Wyss in bester Gesellschaft, in: R. Gröbli u.a. (Hrsg.), Mystiker. Mittler. Mensch, 88–92 [s. Anm. 2].
8 Vgl. N. Kuster / N. Rudolf von Rohr, Fernnahe Liebe. Niklaus und Dorothea von Flüe. Ostfildern 2017, 118 f.
9 R. Gröbli, Mystiker. Mittler. Mensch, 26 [s. Anm. 2].
10 Vgl. Sachsler Kirchenbuch 1488. Zug 1977, 35.
11 N. Kuster / N. Rudolf von Rohr, Fernnahe Liebe, 57 [s. Anm. 8].
12 Papst Franziskus, Amoris laetitia. Nachsynodales apostolisches Schreiben über die Liebe in der Familie. Vatikan 2016, Nr. 210 und 221.
13 N. Kuster / N. Rudolf von Rohr, Fernnahe Liebe, 145 f. [s. Anm. 8].
14 Vgl. dazu A. Grün / A. Schwarz, Und alles lassen, weil Er mich nicht lässt. Berufen, das Evangelium zu leben. Freiburg i.Br. 2006.
15 N. Kuster / N. Rudolf von Rohr, Fernnahe Liebe, 147 f. [s. Anm. 8].
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