Holger Dörnemann

Freundschaft


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so ein ‘rechtes’ Handeln - gewissermaßen von innen her - zu ermöglichen. Ebenso ermöglicht auch die Tugend der Tapferkeit hinsichtlich der irasziblen Affekte der Furcht (»timor«) und der Kühnheit (»audacia«) eine ‘Rechtheit menschlichen Handelns’, indem sie ebenfalls eine regulative Funktion ausübt und eine ‘rechte’ Mitte zwischen diesen sich auf ein ‘widerstrebendes’ Gut beziehenden Affekte garantiert. Da es zur Verwirklichung der Tapferkeit mehr der Vernunft bedarf als bei der Maßhaftigkeit und die Tapferkeit so in höherer Weise auf das »bonum rationis« durchsichtig ist, darum geht in der thomanischen ‘Tugend-Hierarchie’ die Tapferkeit der Maßhaftigkeit voran.

      Mittels aller moralischen Tugenden und im besonderen durch die Leittugenden der praktischen Vernunft (Klugheit) und des sensitiven und intellektiven Strebevermögens (Maßhaftigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit) verwirklicht der Mensch die spezifisch menschlichen Handlungsziele. Als feste Handlungsvorprägungen zum ‘Guten’ garantieren die Tugenden konstante und prompte197, der Vernunft gemäße Tätigkeiten, so daß der Mensch insgesamt zu einem ‘guten’ Menschen wird. Spontaneität und nicht ein ‘Pathos mühevoller Angestrengtheit’ kennzeichnet die Aktuierung der Tugenden. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt198, daß die für das thomanische Tugendverständnis charakteristische Spontaneität mit einem gefühlsmäßigen Erleben gekoppelt ist; denn die Tugenden werden in sich als freude- und glückbringend erlebt.199 Mit Aristoteles ist auch Thomas der Auffassung, daß der Mensch in seiner Tugendhaftigkeit zugleich auch die spezifisch praktische Glückseligkeit verwirklicht200. Zusammen mit der Glückseligkeit, die dem Menschen in den intellektiven ‘Tugenden’ zuteil wird, ist somit das Gesamt der Glückseligkeit angesprochen, die der Mensch ‘aus sich’, ‘mit eigenen Kräften’ erreichen kann. Doch - wie nun bereits mehrfach angedeutet - steht diese Form der unvollkommenen Glückseligkeit (»beatitudo imperfecta«) ganz im Schatten derjenigen (vollkommenen) Glückseligkeit, die den menschlichen Handlungskräften unerreichbar201 und dennoch durch göttliche Hilfe (menschen-) möglich ist202.

       c) Theologische Tugenden und ‘eingegossene’ Tugenden als ‘übernatürlichgnadenhafte’ Vervollkommnungen der Seelenvermögen und als ‘inchoative’ Teilhabe an der ‘übernatürlichen’ Glückseligkeit

      Damit der Mensch trotz der Defizienz seiner natürlichen Kräfte die übernatürliche Glückseligkeit erlangen kann, müssen ihm übernatürliche Handlungsprinzipien203 gewissermaßen ‘von außen’204 hinzugefügt werden, durch die er der Glückseligkeit proportionierte Akte zu vollbringen imstande ist. Thomas nennt diese Handlungsprinzipien nach scholastischer Sprachregelung ‘Theologische Tugenden’, da sie Gott zum Objekt haben bzw. den Menschen auf ihn ausrichten, und versteht sie als ‘eingegossene’ »habitus« (»habitus infusi«205) bzw. als ‘eingegossene’ Tugenden (»virtutes infusae«206). Sie vollenden den Menschen in den nur den Menschen auszeichnenden rationalen Seelenvermögen, Vernunft und Wille. In diesen Seelenvermögen ist der Mensch zwar schon naturhaft auf Gott ausgerichtet, insofern er Grund und Ziel aller spezifisch menschlichen Tätigkeitsvermögen ist, jedoch nicht zureichend, insofern Gott für die Menschen die Glückseligkeit ist.207 So erfaßt die Vernunft in der Theologischen Tugend des ‘Glaubens’ (»fides«) Sachverhalte (»credibilia«), welche menschliche Fassungskraft ‘an sich’ übersteigen.208 Wie die Vernunft wird auch der menschliche Wille seinerseits in der Theologischen Tugend der ‘Hoffnung’ (»spes«) auf die Glückseligkeit als auf ein mit göttlicher Hilfe prinzipiell erreichbares Ziel ausgerichtet. Unbeschadet der Zukünftigkeit der Glückseligkeit, die durch die Hoffnung angezeigt wird, ist der Wille in der Theologischen Tugend der ‘Liebe’ (»caritas«) mit eben diesem Ziel schon verbunden.209

      Obwohl Glaube, Hoffnung und Liebe als vollkommene Tugenden nur zusammen existieren und als vollendende »habitus« nur gemeinsam und zugleich ‘eingegossen’ werden, kann man ihre Akte nach einem ‘Früher’ oder ‘Später’ unterscheiden.210 Denn wie nur etwas geliebt werden kann, was zuvor vom Verstand wahrgenommen wurde, so können sich auch die Theologischen Tugenden der Hoffnung und der Liebe nur auf dasjenige beziehen, was ihnen zuvor im Glauben vorgestellt wurde.211 Die sichere Hoffnung auf die Erlangung eines ‘Gutes’, ermöglicht bzw. entfacht ihrerseits die Liebe zu demjenigen, der das ersehnte ‘Gut’ erreichbar macht; insofern geht die Hoffnung der Liebe voraus.212 Vergleicht man jedoch die gerade skizzierte ‘Ordnung des Entstehens’ (»ordo generationis« bzw. »ordo consecutionis«) der einzelnen ‘übernatürlichen’ Tugendakte mit der ‘Ordnung der Vollkommenheit’ (»ordo perfectionis«), ergibt sich eine umgekehrte Reihenfolge. Denn weil der menschliche Wille in der »caritas« mit Gott verbunden ist und somit auch die Theologischen Tugenden des Glaubens und der Hoffnung ‘formt’, geht die Tugend der Gottesliebe den beiden anderen Theologischen Tugenden voran, ist die »caritas« - in metaphorischer Sprache - ‘Mutter (»mater«) und ‘Wurzel’ (»radix«) aller anderen Tugenden.213 Diese Sonderstellung der ‘übernatürlichen Gottesliebe’ in der Konzeption der Tugendlehre zeigt sich besonders auch darin, daß mit ihr nicht nur der Glaube und die Hoffnung, sondern auch alle anderen moralischen Tugenden eingegossen werden.214 Bei diesen ‘eingegossenen moralischen Tugenden’ (»virtutes morales infusae«) handelt es sich allerdings um mehr als nur um ein ‘übernatürliches’ Äquivalent zu den ‘naturhaft-erworbenen’, von denen sie wegen der Formung durch die »caritas« bzw. durch die Ausrichtung auf Gott verschieden sind. Denn wie z.B. eine Abstinenz beim Essen aus Gesundheitsgründen verschieden ist von einem religiös motivierten und in der Gottesbeziehung gründenden Fasten, so unterscheiden sich ebenso alle anderen ‘natürlichen’ moralischen Tugenden von den mit der ‘übernatürlichen’ Gottesliebe ‘eingegossenen’ Tugenden.215 Alle diese »virtutes morales infusae« setzen, insofern und weil sie auf das ‘letzte Ziel’ ausrichten, die Gottesliebe voraus.216 Wie die Klugheit unter den moralischen Tugenden eine Verbindung herstellt, so verbindet die Gottesliebe in einem noch höheren Maße alle Tugenden, indem sie als eine den Willen mit dem Ziel menschlichen Lebens verbindende Tugend alle anderen moralischen Tugenden ihrer Bewegung einschreibt, durchdringt und gewissermaßen innerlich ‘formt’. Von daher kann Thomas die ‘übernatürliche’ Gottesliebe auch als ‘Form aller anderen Tugenden’ (»forma virtutum«)217 bezeichnen. Weil die Vollendung des Menschen nach Thomas nicht minder geordnet und vollkommen sein kann als das natürliche Leben, darum sind dem Menschen mit der Gottesliebe alle anderen moralischen Tugenden zu eigen218, und so hängen alle Tugenden von der »caritas« ab219, wie schon im natürlichen Bereich der Affekte die (‘natürliche’) Liebe ‘Wurzel’ und ‘Grund’ aller anderen Affekte ist.220 Wenn die »caritas« verloren geht, verschwinden mit ihr einerseits alle von ihr abhängigen moralischen Tugenden221, aber auch die ‘eingegossenen’ Tugenden des Glaubens und der Hoffnung büßen ihre Vollkommenheit ein und sind wegen der unzureichenden Ausrichtung des menschlichen Willens auf Gott dann ebenfalls keine Tugenden im strengen Sinne mehr.222 So ist die »caritas« zugleich auch ‘Wurzel’ der Theologischen Tugenden des Glaubens und der Hoffnung, die nur durch die Gottesliebe vollkommene Tugenden sein können, die zugleich aber auch, wie im Blick auf die ‘Ordnung der Entfaltung der Tugendakte’ (»ordo consecutionis«) gezeigt, der Gottesliebe vorausgehen und von ihr vorausgesetzt werden.223

      Indem Thomas die ‘übernatürliche’ Gottesliebe im Anschluß sowohl an aristotelische als auch an biblische Argumentationsmuster als Freundschaft und Gemeinschaft des Menschen mit Gott versteht, kann er analog zu einer zwischenmenschlichen Freundschaft, die in sich Mißtrauen und Hoffnungslosigkeit gewissermaßen ‘per definitionem’ ausschließt, auch von der Gemeinschaft des Menschen mit Gott sagen, daß sie Glaube und Hoffnung notwendig voraussetzt: nämlich den Glauben, der eben diese Gemeinschaft des Menschen mit Gott glaubt, und die Hoffnung, in der die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft auch (bzw. gerade) in Zukunft für möglich gehalten wird.224 Indem Glaube, Hoffnung und Liebe sich wechselseitig implizieren und gemeinsam die Freundschaft des Menschen mit Gott ermöglichen, sind sie zugleich