Die Erlangung der ‘vollkommenen Glückseligkeit’ verlangt das Zusammenspiel von menschlicher Freiheit und gättlicher Hilfe (»auxilium divinum«).69
Dieses Zwischenergebnis wird in den verbleibenden Artikeln der die Glückseligkeitslehre abschließenden qu. 5 gesichert und konkretisiert: Weder durch das Eingreifen sonstiger Mächte (a. 6) noch durch das Wirken Gottes allein (a. 7) wird die ‘vollkommene Glückseligkeit’ bewirkt. Damit sie erlangt werden kann, bedarf es in der von Gott bestimmten Ordnung (»ordo divinae sapientiae«) immer auch eines ‘guten Handelns’.
Die Bedeutung der menschlichen Freiheit für die Erlangung der Glückseligkeit wird mit einem Seitenblick auf das Heilsereignis in Jesus Christus nochmals unterstrichen. Der expliziten Erlösungslehre vorgreifend, sagt Thomas, daß das erlösende Wirken Christi die menschliche Freiheit nicht einfach überspringt, sondern - ganz im Gegenteil - den Menschen erst auf neue Weise dazu befähigt, das Ziel seines Lebens durch sein (verdienstvolles) Handeln zu erreichen70 Gegen Ende der Glückseligkeitslehre ist hinsichtlich der Erlangung der ‘vollkommenen Glückseligkeit’, die formal von allen Menschen angestrebt wird (a. 8), festzuhalten: Die »beatitudo perfecta«, kann unter den Bedingungen, unter denen sich das Menschsein faktisch vollzieht, nicht anders als durch menschliche Akte erreicht werden, die dem Ziel proportioniert sind.
Wer sich mit dieser noch sehr allgemeinen Antwort nicht zufrieden gibt und nach tieferer Einsicht in die aus (moral-) theologischer Sicht drängende Frage nach der Erlangung der Glückseligkeit sucht, wird von Thomas im Proemium zur qu. 6 auf die nachfolgenden Quästionen und Traktate der IIa Pars verwiesen: ‘Weil es zur Erlangung der Glückseligkeit notwendig bestimmter Handlungen bedarf, muß im folgenden das menschliche Handeln eingehender untersucht werden, damit erkannt werden kann, welche Handlungen zu ihr führen und welche nicht.’71 Für den Thomas-Interpreten der STh ist dieser Satz zugleich als (mahnende) Handlungsanweisung zu lesen, den gegen Ende der Glückseligkeitslehre erhobenen Untersuchungsstand nicht unmittelbar mit den einschlägigen Texten der Gnadenoder Erlösungslehre zu konfrontieren, sondern vorerst Thomas weiterhin auf dem in der STh eingeschlagenen Weg zu folgen. Von daher erklärt sich der weitere Gang der Untersuchung, indem zunächst - in der im Blick auf die umfangreiche Sekundärliteratur gebotenen Kürze - auf die die menschliche Handlung konstituierenden (intellektiven und sensitiven) Handlungsvermögen72 und Handlungsprinzipien73 (»habitus«; natürliche und übernatürliche Tugenden) eingegangen wird.
1.2 Der Beitrag der menschlichen Seelenvermögen (Vernunft, Wille, Affekte) zur Verwirklichung der Gottebenbildlichkeit und zur Erlangung der Glückseligkeit
a) Die Erlangung der Glückseligkeit durch ‘vernunfthaftes Wollen’ bzw. durch ‘willentliche Akte’
Nicht weil Gott nicht auch anders könnte, sondern damit die ‘Ordnung der Dinge’ erhalten bleibt74, ist es Aufgabe des Menschen, durch freie, selbstbestimmte Akte (sich zu Gott hinzukehren und so) die Glückseligkeit zu erlangen.75 Mit dieser allgemeinen Auskunft leitet Thomas von der Glückseligkeitslehre (qu. 1-5) zur Untersuchung der menschlichen Handlung (qu. 6-21) über, in der von Beginn an die Frage nach dem Verhältnis bzw. nach dem Zusammenspiel von göttlichem und menschlichem Wirken zur Erlangung der Glückseligkeit mit im Blick bleibt. Schon nach der ersten präzisierenden Bestimmung menschlichen Handelns in qu. 6 als dem freien Willen entspringend, selbstbestimmt und in einer eigenen Wahrnehmung und Erkenntnis gründend (a. 1)76, wird erneut grundsätzlich festgehalten, daß der menschlichen Freiheitlichkeit und Selbstbestimmtheit ein göttliches Wirken nicht widerspricht.77 Doch auch wenn göttliches und menschliches Wirken ausdrücklich nicht als zwei miteinander konkurrierende, einander ausschließende Prinzipien verstanden werden, bleibt vorerst weiterhin die Art und Weise ihrer Beziehung unklar und der Erklärung bedürftig.
Die Argumentation der qu. 6 hilft in der Frage indirekt dadurch weiter, daß in ihr vertieft die Struktur, die Reichweite und die Grenzen ‘vernunfthaften Wollens’ untersucht werden. Anders als etwa bei den Tieren, deren Tätigkeiten auf eine unvollkommene Wahrnehmung oder einem Affektimpuls folgen, ist das Handeln des Menschen mehr als einfach nur zielgemäß. Es gründet in einer vollkommenen, vernunfthaften Erkenntnis eines Zieles, in der die »ratio finis«, also das Ziel als Ziel, und in der Folge auch die ‘Mittel’, durch die es erreichbar ist, erkannt werden (a. 2)78.
Doch auch wenn der Mensch aufgrund seines vernunftgeleiteten, selbstbestimmten Wollens als ‘Herr seines Handelns’ (»dominus sui actus«)79 bezeichnet wird, heißt das weder, daß sich dieses Wollen notwendig in kategorial wahrnehmbaren, ‘äußeren’ Tätigkeiten, noch daß es sich überhaupt in Akten manifestieren müßte (a. 3). Indem Thomas von den ‘äußeren Akten’ diesen vorausliegende ‘geistig-innere Akte’ unterscheidet, zieht er für den Fall, daß ein Mensch etwas ausdrücklich nicht will, die Möglichkeit in Betracht, daß auf einen ‘inneren’ Akt kein ‘äußerer’ Akt folgt, und für den Fall, daß der Wille aktuell nicht(s) will, die Möglichkeit eines freien Willens gänzlich ohne Akt. Mit dieser Argumentation nähert sich Thomas seinem Verständnis von menschlicher Willensfreiheit80: Menschliche Willensfreiheit geht nicht auf in der Fähigkeit, dieses oder jenes zu tun, sondern liegt als Prinzip menschlichen Handelns den einzelnen Willensakten und dem Handeln als solchem voraus. Wie der Wille Prinzip menschlichen Handelns ist, wird in der folgenden Argumentation herausgestellt, indem seine Beeinflußbarkeit durch äußere (Gewalt, a. 4-5) und innere Faktoren (Furcht, a. 6; Begierlichkeit, a. 7; Unwissen, a. 8) untersucht wird. Dabei kommt der Frage, ob und inwiefern äußere Gewalt die Willentlichkeit des Menschen beeinflussen kann, im Blick auf das Zusammenspiel von menschlichem und göttlichem Handeln das Hauptinteresse zu.
Thomas teilt die Auffassung, daß äußere Gewaltanwendung der menschlichen Willensfreiheit widerspricht: Was aufgrund äußeren Drucks gewirkt wird, hat offenkundig nicht mehr seinen Ursprung in einem inneren Handlungsprinzip, ist also ‘unwillentiich’ (»involuntarium«).81 Und dennoch vermag nach Thomas auch die stärkste Gewalteinwirkung die menschliche Willensfreiheit in ihrem Kern weder zu zerstören noch überhaupt zu berühren. Äußerer Gewalteinwirkung unterliegen (und somit unwillentlich werden) können zwar alle Tätigkeiten, die der Wille vermittels anderer Vermögen wirkt (»actus imperati«), wie z.B. jemand am Sprechen gehindert werden kann.82 Diejenigen Akte aber, die der Wille direkt zu wirken vermag und die ihm unmittelbar unterstehen (»actus eliciti«), d.h. alle Akte eines direkten Wollens, können demgegenüber durch keine Gewalt der Welt unwillentlich und unfreiwillig werden. Sie sind immer willentlich,83 Vor dem Hintergrund dieser Argumentation wird nun auch das mit dem menschlichen Willen einhergehende Wirken Gottes bei der Erlangung der Glückseligkeit nicht als ein gewalttätiges oder auch nur den menschlichen Willen überspringendes ‘Eingreifen’ verstanden, das die Erlangung der Glückseligkeit immer zu einer nicht dem menschlichen Willen entspringenden Handlung machen würde.84 Wenn aber eine dem Willen entspringende, freie, selbstbestimmte, d.h. willentliche Handlung zur Erlangung der Glückseligkeit ausdrücklich gefordert ist, muß das göttliche Wirken, das als ein ‘Bewegen’ bezeichnet wird85, anders gedacht werden.
Nähere Hinweise auf die Frage, wie Gott den Willen zu ‘bewegen’ vermag, ohne ihm ‘Gewalt’ anzutun, werden erst in den qu. 9-10 gegeben, in denen ganz allgemein die Art und Weise untersucht wird, wie und wodurch der menschliche Wille ‘bewegbar’ ist.86 Qu. 9 widmet sich der Frage nach der Ursache der Willensbewegung (»de motivo voluntatis«). Es wird gezeigt, daß der Wille nicht etwa von irgendeinem anderen Seelenvermögen ‘in Bewegung gesetzt’ wird, sondern als das ‘innerliche Prinzip’ menschlichen Handelns seinerseits die übrigen Seelenvermögen ‘gebraucht’ bzw. ihre Ausübung (»ad exercitium vel usum actus«) bedingt (a. 1)87. Auch der Verstand (»intellectus«) ist auf diese Weise von einem vorausgehenden Willensimpuls abhängig und wird durch ihn tätig. Doch vermag der Verstand umgekehrt auch die Willensbewegung zu beeinflussen, indem er deren formale Ausrichtung auf das ‘allgemeine Gut’