Bernhard Kohl

Die Anerkennung des Verletzbaren


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kann man folgern, dass die unser menschliches Denken und Verhalten bestimmenden Abstraktionen auch in Bereichen des religiösen Lebens, der Theologien und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Themen der Religion aufzudecken und gegebenenfalls zu revidieren sind. Bei dieser Revision handelt es sich um eine interdisziplinäre Angelegenheit, da die gebräuchlichen Abstraktionen jeweils in mehreren Kontexten verortet und operativ sind.2

      Dabei ist es in einer säkularen Kultur und Gesellschaft natürlich keineswegs selbstverständlich Leitkonzeptionen an biblischen Texten zu orientieren. Vielmehr besteht die Unsicherheit, auf welche Theorien überhaupt zurückgegriffen werden kann und soll. Weist man beispielsweise auf, wie weit sich das zeitgenössische Verständnis der Gottebenbildlichkeit und der Menschenwürde von den wichtigsten biblischen Belegstellen entfernt hat und somit unsicher wird, wie man eine theologische Leitkonzeption bzw. Abstraktion begründen kann, so besteht einerseits zumindest die Möglichkeit einen weiten Abstand vom biblischen Ausgangspunkt einzunehmen und vielleicht sogar relativistisch zu argumentieren. Andererseits kann man aber auch die positiven Veränderungspotenziale der biblischen Texte für Leitkonzeptionen betrachten, welche die Chance in sich bergen, steril gewordenen Abstraktionen wieder ins Leben zu helfen.

      „Wir machen deshalb einen Fehler, wenn wir eine einzige Definition des Menschlichen oder ein einziges Modell der Rationalität für die bestimmende Charakteristik des Menschlichen halten und dann von diesem anerkannten Verständnis des Menschlichen auf alle seine verschiedenen kulturellen Formen schließen. […] Auf das zu stoßen, was für manche wie ein Grenzfall des Menschlichen wirkt, ist eine Herausforderung, das Menschliche neu zu denken. […] Eine kritische Wirkungsweise jener demokratischen Kultur besteht darin, […] eine Reihe unvereinbarer und sich überschneidender Rahmen in den Blick kommen zu lassen, die Herausforderung der kulturellen Übersetzung anzunehmen, und besonders solche Herausforderungen, die entstehen, weil wir selbst in nächster Nähe zu denen leben, deren Überzeugungen und Werte unsere eigenen auf einer sehr grundsätzlichen Ebene in Frage stellen. […] Es ist […] eine fortwährende Aufgabe, das Menschliche neu zu denken, wenn sich herausstellt, dass dessen vermeintliche Universalität keinen universellen Geltungsbereich hat. Die Frage, wer menschenwürdig behandelt werden wird, setzt voraus, dass wir zunächst die Frage geklärt haben, wer als ein Mensch zählt und wer nicht.“3

      Für die Theologie als Akteurin innerhalb der pluralen Gesellschaft4 stellt sich daher die Frage, wie christlich-ethische Positionen in der Öffentlichkeit entwickelt, artikuliert und übersetzt werden können. Die Voraussetzungen hierfür sind dabei durchaus kritisch zu beurteilen, um „die Vermutung der Homogenität innerhalb der einzelnen Weltanschauungsgemeinschaften nicht zu überdehnen. Die Pluralität der Gesellschaft reicht weit in diese einzelnen ‚communities‘ hinein und bewirkt seit langem – wenngleich in gewissen Grenzen – eine innere Pluralisierung auch der als relativ homogen geltenden gesellschaftlichen Kräfte wie z. B. der katholischen Kirche […]. Die darin angezeigte Entwicklung wirft weit reichende Fragen bezüglich der Chancen und Ressourcen zur Verständigung über Werte und Ziele gesellschaftlichen Handelns auf. Zum anderen ist die Diskussion um geeignete Verfahren der ethischen Verständigung unter Pluralitätsbedingungen aufzunehmen“5. Weiter stellt sich aus gesellschaftlicher Perspektive einerseits die Frage, ob überhaupt der Bedarf an einer Übersetzung religiöser Begriffe und Positionen aus der „überweltlichen“ in die „innerweltliche“ Sphäre besteht und andererseits aus theologischer Perspektive, ob eine solche Übersetzung erfolgversprechend sein kann, oder ob nicht gerade die normativen Begriffe der großen Weltreligionen „die unauslöschlichen Spuren primitiver gesellschaftlicher Verhältnisse tragen, die längst nicht mehr bestehen […]“ und somit jeder Versuch „diese Begriffe in die Sprache der profanen Vernunft zu überführen […] letzten Endes den Verrat ihres ursprünglichen religiösen Gehalts [bedeutet | BK]“6, nämlich des Transzendenzbezuges.7 Außerdem stellt sich die Frage, wann eine Übersetzung als gelungen betrachtet werden kann, da man davon ausgehen muss, dass es eine restlose Übersetzung nicht geben kann. Deswegen scheint es sinnvoll weniger von einem Paradigma des Übersetzens, als von dem einer Transposition moralisch-ethischer Elemente des Religiösen in eine säkulare moralisch-ethische Sprache auszugehen. Hinzu tritt hier der Vorteil, dass somit die Kooperation von Menschen mit und ohne religiöser Tradition unterstrichen wird, da Verständigung zwischen „beiden Gruppierungen“ dann zustande kommt, wenn beide zustimmen können, weil sie sich in ihren Anliegen getroffen fühlen. „Der in dieser Kooperation enthaltene Wechsel zwischen der Innenposition des Glaubens und der Außenposition zur Religion weist […] schließlich die Richtung, um der Idee einer ‚Übersetzung‘ zwischen einem Glaubens- und einem nicht-religiösen Standpunkt etwas abzugewinnen und dabei gleichzeitig dem Problem der Reduktion religiöser Semantik auf kognitive Gehalte zu begegnen.“8

      Häufig wird außerdem angesichts der zunehmenden Pluralisierung der Ruf nach einem gesellschaftlichen Grundkonsens laut, womit ausgedrückt werden soll, dass es einer Verständigung über eine geteilte Wertgrundlage innerhalb einer Gesellschaft bedarf, um den sozialen und politischen Frieden innerhalb einer Gesellschaft zu erhalten. Die Frage ist, ob es einen derartigen materialen Grundkonsens unter den gegebenen Gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt noch geben kann – oder geben darf. Vielleicht ist es sinnvoll unter den geschilderten Bedingungen eher von einer Gesellschaft oder „Kultur des Kompromisses“9, als von einer Konsenskultur zu sprechen. Marianne Heimbach-Steins zufolge kommt dem Kompromiss als „Verfahren handlungsorientierter Verständigung trotz bleibender Dissense“ eine herausragende gesellschaftliche Bedeutung zu, da der Kompromiss die Pluralität einer Gesellschaft respektieren und als Herausforderung für die Gestaltung des Zusammenlebens annehmen kann, „ohne dass dies zum Identitätsverlust der handelnden (individuellen oder kollektiven) Subjekte führen darf“, womit gleichzeitig etwas über Chance und Schwierigkeit des Kompromisses zum Ausdruck kommt. Der Kompromiss, so Heimbach-Steins, bildet eine Art Analogon zu den partizipatorischen Strukturen politischer Entscheidung und zugleich ein Korrektiv zum Mehrheitsprinzip der Demokratie. Seine Grenzen findet der Kompromiss in der Orientierung am Gemeinwohl: Das Ziel, die Bedingungen für die Entfaltung der Gesellschaftsmitglieder zu optimieren, „also dem Personwohl aller einzelnen Geltung zu verschaffen, setzt einer Kultur des Kompromisses offensichtlich Grenzen. Sie werden immer dort erreicht, wo Werte oder Ansprüche miteinander konkurrieren, die nicht ohne weiteres gegeneinander ausgleichsfähig erscheinen; dies betrifft namentlich sittliche Werte“10. Wie aber sind diese Grenzen in einer pluralen Gesellschaft ausfindig zu machen bzw. wie kann eine „ethische Wahrheit“ entdeckt werden, die ja nicht statisch erscheint, sondern in einem unbegrenzten und unabschließbaren Prozess stets neu ermittelt werden muss? Hier kann eine Definition des Begriffs „Kompromiss“ hilfreich sein: Ein Kompromiss kann „bestimmt werden als eine zivilisierte Form der Auseinandersetzung bzw. der konstruktiven Bearbeitung von Dissensen mit dem Ziel, unter Anerkennung fortbestehender Differenz zwischen den Beteiligten einen handlungsorientierten Konsens zu erreichen“. Bei einem Kompromiss kann es also nicht um definitive Wertentscheidungen, sondern „um geschichtlich überholbare, handlungsbezogene Entscheide auf der Basis des je jetzt bestmöglich Einsichtigen“11 gehen.

      In moderner, pluraler Gesellschaft besteht somit die Notwendigkeit für die Ethik, sich in den Denk- und Erfahrungskategorien der jeweiligen Gegenwart auszudrücken. Die theologische Ethik kann – sowohl in ihrer moraltheologischen als auch in ihrer sozialethischen Ausprägung – zu diesem gegenwärtigen Ausdruck beitragen, wenn sie sich als eine Teilnehmerin an einer gemeinsamen und gesamtgesellschaftlichen Aufgabe und Zielstellung versteht und von daher profiliert, da „die Abhängigkeit der Moral von der jeweiligen Kultur […] ein empirisches, ethnologisch, rechts- und kultursoziologisch ausweisbares Faktum“12 ist.

      Moderne (westliche) Kulturen sind Kulturen der Freiheit. In diesen Kulturen „verändert sich die traditionelle Vorstellung von Moral grundlegend. Moral ist verantwortliche Freiheit. Sie tritt nicht als Einschränkung der Freiheit auf, sondern muss in ihrem Zusammenhang mit Freiheitsverwirklichung