Bernhard Kohl

Die Anerkennung des Verletzbaren


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sind die Bindungen im Diskurs nicht gegenständlicher, sondern pragmatischer Art, d. h. nicht alle Propositionen im Diskurs können beliebig miteinander verbunden werden. Wer eine bestimmte Grenze überschreitet, die allerdings nicht präzise beschreibbar ist, der wird im Diskurs nicht anschlussfähig sein. Was der Diskurs in diesem Sinne verlangt und was damit seine pragmatische Bindung ausmacht, ist das Erfordernis einer stimmigen Begründung einer Entscheidung vor dem Hintergrund des geltenden Vokabulars bzw. der konstruierten Sprache. Entscheidungen müssen argumentativ mit anderen Elementen des bisherigen Diskurses verknüpft werden. Damit ist die Stimmigkeit bzw. die Kohärenz des Diskurses „not a fact, but an achievement“. Dies ist eine Konsequenz einer nicht-ontologischen Position.“42

      Sehr pointiert wird dies von Zygmunt Bauman zusammengefasst43, der davon ausgeht, dass eine Gesellschaft den Status der Autonomie erreicht hat, wenn sie weiß, dass es keine gesicherte Bedeutung gibt, dass sie selbst auf der Oberfläche des Chaos lebt, dass sie selbst Chaos auf der Suche nach einer Form ist, aber einer Form, die nie für immer fest und fixiert ist. Das Fehlen garantierter Bedeutungen – absoluter Wahrheiten, natürlicher Unterscheidungen zwischen richtig und falsch – ist die conditio sine qua non sowohl einer autonomen Gesellschaft als auch freier Individuen. Somit beruhen auch alle Sicherheiten, die Demokratie und Individualität bieten, nicht auf dem Kampf gegen die endemische Kontingenz und Ungewissheit der menschlichen Existenz, sondern auf deren „ungeschminkter Anerkennung“ und der Auseinandersetzung mit ihnen. Diese ungeschminkte Anerkennung und deren Konsequenz eines Lebens mit einer Vielzahl konkurrierender Werte, Normen und Lebensstile, ohne die Garantie es selbst richtig zu machen, ist gefährlich und fordert einen hohen psychischen Preis, da Menschen zur kompensatorischen Schutzreaktion großer Vereinfachungen neigen. „[…] unaufgefordert fallen wir in regressive Phantasien vom Typ Mutterleib und ummauerter Festung zurück.“44

      Nach dem bisher Gesagten erweist sich eine Konzeption bzw. ein Verständnis von (theologischer) Ethik als hermeneutische und somit schwach normative Theorie als zentrale Annahme, d. h. als Theorie, die das Verstehen dessen leisten will, was individuell verschieden bleibt und nicht einfach unter universelle Regeln zu subsumieren ist. Damit ist auch die Einbettung und Kontextualisierung subjektiver Verantwortung in bereits laufende Diskurse über Werte und Normen zu verstehen, wodurch die individuelle Wahl einerseits nicht restlos determiniert, andererseits aber auch nicht vollkommen autonom getroffen werden muss.45 Hermeneutische Ethik geht davon aus, dass es keine eindeutigen Lösungen für alle denkbaren Probleme gibt, da Menschen über keinen absoluten, material formulierbaren Maßstab verfügen – und hält dies nicht für einen Nachteil. Im Gegenteil: durch diese hermeneutische Offenheit bleibt eine stete Rückbindung von Theorien der Moral an Alltagserfahrungen als Ort der Bewährung begrifflicher Anstrengungen möglich. Damit ist sie gleichzeitig an die Autorität individueller Erfahrungen gebunden und steht autoritativen Fixierungen kritisch gegenüber bzw. wirkt sich als deren Korrektiv aus, da sie soziale Gebilde und Überlieferungen als Konstrukte versteht, deren Genese prinzipiell rational nachvollziehbar sein muss, um mit einem Anspruch auf Geltung oder Normierung verknüpft werden zu können. Der hermeneutisch-ethische Prozess ist deswegen auch grundlegend intersubjektiv ausgerichtet, d. h. er geht nicht von einer absoluten Autonomie des Subjekts bzw. von einer vollständig autarken Schöpfung ethischer oder moralischer Geltungsansprüche aus, hat aber andererseits Respekt vor Differenzen und vermeidet die Einebnung des moraltheoretischen Pluralismus.46 Damit lässt sich auch ethisches Denken in der Tradition Gianni Vattimos als „schwaches Denken“47 kennzeichnen – und natürlich auch kritisieren –, das sich nicht in die Erkenntnis ewiger Wahrheiten versteigt, sondern die „nihilistische Berufung der Hermeneutik“ ernst nimmt, wonach „Wahrheit Interpretation ist, das heißt, dass jede Verifikation oder Falsifikation von Urteilen nur im Horizont einer vorausgehenden, nicht transzendentalen, sondern ererbten Entschlossenheit erfolgen kann“, was die „Auflösung der Wahrheit als endgültiger und ‚objektiver‘ Evidenz“ bedeutet.48 Ein hermeneutischer, interpretierender Ansatz geht damit über die Annahmen des Überlieferten hinaus, da sich Traditionen im Prozess ihrer Rezeption verändern, „so dass der rückwärts gewandte Blick keine Garantie dafür bietet, an den unversehrten Kern einer ursprünglichen Wahrheit zu gelangen […]“49. Unter diesen Vorzeichen kann eine (theologische) Ethik, die sich als schwach normative und hermeneutisch orientierte Lebenswelttheorie versteht, ihren Anteil an der Arbeit der Ideologiekritik leisten, die im Namen der Gewissensfreiheit die Pluralisierung von Überzeugungen begrüßt und sich sensibel für Bevormundungen und Verletzungen jeder Art erweist, wodurch sie zur besseren Gestaltung eines immer fragmentarischen und in mancher Hinsicht „beschädigt“ bleibenden menschlichen Handelns beiträgt.50 Das mögliche Ziel der besseren Gestaltung menschlichen Lebens besteht dann darin, „die sachliche und existentielle Vielfalt durchzustehen und zur Geltung zu bringen, um eine dieser Offenheit innewohnende Menschlichkeit ausschöpfen und für das Gelingen des Lebens gestalten zu können“51.

      Im Verlauf dieser Arbeit soll nun zunächst gezeigt werden, dass ethische Entwürfe, die sich in der Tradition anerkennungstheoretischer Ansätze bewegen mit den aufgeführten, pluralen Voraussetzungen einer zeitgenössischen Ethik und darüber hinaus auch mit den umrissenen Voraussetzungen einer modernen (theologischen) Ethik kompatibel sind.

      Historisch betrachtet hat die Anerkennungstheorie eine Reihe von Vorläufern. Beginnen kann man eine Aufzählung durchaus mit der klassisch-griechischen Vorstellung der Freundschaft, die im Renaissancehumanismus wiederentdeckt und in der Aufklärung präzise analysiert wurde. Vor allem aber wird der Ursprung der Anerkennungstheorie im deutschen Idealismus, insbesondere im Werk Fichtes und Hegels verortet werden müssen. Marx hat die dort gewonnenen Erkenntnisse aufgegriffen und sie im Hinblick auf den identitätsbildenden und auch entstellenden Charakter der kapitalistischen Produktionsverhältnisse neu formuliert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Anerkennungsbegriff vor allem von psychoanalytischen Schulen und der entwicklungspsychologischen Forschung aufgegriffen, die beide die zentrale Bedeutung der Intersubjektivität betonten. Einen zusätzlichen Impuls brachte der linguistic turn in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts ein, welcher durch die Theorie des kommunikativen Handelns auf die sprachliche Konstitution von Subjekt und Gesellschaft einging. Zwei wichtige zeitgenössische Strömungen, die ihre Impulse aus den anerkennungstheoretischen Überlegungen Hegels beziehen waren und sind der Feminismus der zweiten und dritten Generation und die durch die soziopolitischen Herausforderungen multiethnischer Gesellschaften geprägte Spezifizierung des Anerkennungsbegriffs, die die rechtlichen und sozialen Ansprüche verschiedener Gruppierungen und Minderheiten zu begreifen versucht.52

      Inhaltlich weist die Anerkennungstheorie als Moraltheorie Verbindungen zu verschiedenen philosophischen Strömungen auf. So einerseits zum Neoaristotelismus, da sie ihre Aufmerksamkeit auf den konstitutiven Zusammenhang von gesellschaftlichen Umständen, Bildung und Entwicklung eines guten Lebens richtet. Darüber hinaus gibt es auch Anleihen beim Konsequentialismus. Nicht im Sinne eines einfachen Präferenzutilitarismus, wohl aber in der Bewertung des Ausmaßes, in welchem der größten Anzahl von Individuen umfassende Formen der Selbstverwirklichung möglich sind. Auch werden Elemente der kantischen Philosophie aufgegriffen, indem der Anspruch erhoben wird normative Bewertungen erklären und begründen zu müssen und zwar unter der Prämisse, dass sie weder kulturell noch sozial kontingent sind.53

      Zu ihrer charakteristischen Ausprägung findet die Anerkennungstheorie in der Verbindung von Hegelscher Analyse intersubjektiver Anerkennungsbeziehungen, moralischer Phänomenologie erfahrener Missachtung, Darstellung der intersubjektiven Voraussetzungen der Ontogenese und einer theoretischen Begründung des intersubjektiven Charakters der Rechtfertigung von Geltungsansprüchen. Das Resultat dieser Melange stellt eine moralorientierte philosophische Anthropologie dar, die mit Erklärungs- und Rechtfertigungsansprüchen der politischen Philosophie und der Sozialtheorie verknüpft ist und „in aufschlussreicher Weise unterscheiden kann zwischen drei verschiedenen Formen intersubjektiver Anerkennung – typisiert als Liebe, Achtung und Wertschätzung –, deren Verhältnis zur Entwicklung verschiedener Formen