Bernhard Kohl

Die Anerkennung des Verletzbaren


Скачать книгу

Befriedigung von Anerkennungserwartungen. Darüber hinaus sind insbesondere an den institutionellen Anerkennungsordnungen drei Komponenten wichtig: Sie müssen erstens auf Normen beruhen, die eine nachvollziehbare Verknüpfung von individueller Rollenbefolgung und sozialer Anerkennung herstellen; zweitens müssen diese Verknüpfungen in einem generalisierten Anerkennungsmedium dauerhaft sein; drittens sollte das entsprechende Medium in einem deutlichen, erkennbaren und generalisierten Symbol zum Ausdruck kommen.101

      Die erste Stufe der wechselseitigen Anerkennung ist die Sphäre der affektiven Anerkennungsverhältnisse in Lebensbereichen, die durch emotionale Zuwendung, Liebes- und Freundschaftsbeziehungen geprägt sind und sich in primären Nahbeziehungen ausbilden. Diese Anerkennungsverhältnisse äußern sich in Akten, „die wie die bedingungslose Fürsorge oder das verständnisvolle Verzeihen zu erkennen geben, dass sie allein um des individuellen Wohlergehens eines konkreten Anderen willen geschehen“103. Mit anderen Worten handelt es sich um Akte, die eine nichtinstrumentelle, bedingungslose Sorge um das Wohlergehen eines anderen Individuums zum Ausdruck bringen.

      Auf dieser Ebene werden menschliche Individuen in ihrer konkreten Bedürfnisnatur anerkannt und so in ihrem praktischen Selbstverhältnis gestärkt. In dieser ersten, grundlegenden Sphäre der Anerkennung, die die notwendige Voraussetzung für jede weitere Identitätsentwicklung darstellt, wird das Individuum in seiner besonderen Triebnatur bestätigt, wodurch ihm bei der Entwicklung zu einem unverzichtbaren Maß an Selbstvertrauen geholfen wird.104 Das heranwachsende Ich bildet sich im Rahmen dieser Primärbeziehung in vorsprachlichen Interaktionserfahrungen zwischen emotionalen Bindungen und Ablösungsängsten heraus. In einer ersten Phase der „undifferenzierten Intersubjektivität“105 ist das Kind quasi symbiotisch an seine primäre Bezugsperson gebunden und ist in einer Weise von dieser abhängig, dass es die Beziehung von Selbst und Umwelt als Einheit erlebt. Umgekehrt ist aber auch die Bezugsperson symbiotisch mit dem Kind verbunden, da sie von der Nicht-Kommunizierbarkeit der Bedürfnisse seitens des Kindes dazu gebracht wird, sich vollständig mit diesen Bedürfnissen zu identifizieren.

      Im weiteren Verlauf der Entwicklung des Kindes erfolgt dann die Herausbildung der Fähigkeit, die Distanz der Bezugsperson zu ertragen und somit die unmittelbare Erfüllung der eigenen Bedürfnisse aufschieben zu können. Letztendlich bildet sich ein Vertrauen darauf heraus, dass die Zuwendung der Bezugsperson auch dann erfolgt, wenn sie unmittelbar zunächst versagt bleibt. Im weiteren Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung werden außerdem Liebesbeziehungen und Freundschaften eingegangen, die in ihrem Gelingen aber von der frühkindlichen Entwicklung des Selbstvertrauens abhängig sind und darüber hinaus von einer Sehnsucht nach der ursprünglichen Symbiose zwischen Kind und primärer Bezugsperson motiviert werden. Die moralische Relevanz dieser Anerkennungssphäre besteht in der Erfahrung des Individuums in seiner jeweiligen leiblichen Integrität anerkannt zu werden.106 Schwieriger wird es allerdings moralische Pflichten zu benennen, die aus diesem primären Anerkennungsverhältnis erwachsen, da positive Pflichten der Liebe, Zuneigung und Fürsorge nur von den Individuen eingefordert werden können, die mit der betreffenden Person bereits in einer intimen Beziehung stehen.107 Außerdem zeichnet sich gerade der Bereich der emotionalen Zuwendung durch ein Moment der Unverfügbarkeit aus, weswegen er nicht als Zustand, sondern als entgrenzende Dynamik, die zwischen Einheit und Trennung changiert, zu sehen ist.108

      Der kindliche Ablösungsprozess von der primären Bezugsperson stellt außerdem einen initialen Kampf um Anerkennung dar, welcher letztendlich aber als ein konstruktives Verhalten zu verstehen ist, durch das das Kind selbstständig wird und auch Andere in ihrer personalen Eigenständigkeit akzeptieren kann. Wegen des eingeschränkten Interaktionsbereiches wohnt dieser Sphäre allerdings ein moralischer Partikularismus inne, der durch keinen Verallgemeinerungsversuch auflösbar ist, da sich die affektiven Gefühle nicht einfach auf andere Interaktionspartner übertragen lassen.109

      Im Hinblick auf die historische Ausdifferenzierung der Anerkennungssphäre Liebe macht Honneth zwei parallele Prozesse aus, die sich mit sozialhistorischen Erkenntnissen decken: die Kindheit wird institutionalisiert und die Eltern-Kind-Beziehung bzw. die Paarbeziehung emotionalisiert.110 Interessant ist auch, dass sich Familien- und Paarbeziehungen durch eine „prekäre Balance zwischen Selbständigkeit und Bindung“111 auszeichnen. Einerseits besteht eine enge, reziproke Verwie-senheit auf den konkreten, partikularen Anderen. Andererseits bedeutet dies nicht, dass die Individuen in einer solchen Beziehung wie in einer symbiotischen Einheit aufgehen und darin ihre Individualität verlieren, im Gegenteil: Familien- und Paarbeziehungen sind durch eine reziproke Anerkennung der jeweiligen Individualität des Anderen gekennzeichnet. Autonomie wird hier gewährleistet oder in der Eltern-Kind-Beziehung überhaupt erst ermöglicht.112

      Die Pointe einer Liebesbeziehung als Anerkennungssphäre besteht also darin, dass Individuen Anerkennung gerade für ihre Individualität erhalten. Im Aushalten und Meistern der Spannung zwischen symbiotischer Selbstpreisgabe und individueller Selbstbehauptung hat das Subjekt die Möglichkeit, die erste Form des Selbstverhältnisses zu entwickeln, das Selbstvertrauen, welches durch affektive Zuwendung ausgebildet und gestärkt wird. In dieser Sphäre ausgebaut, ist es für die folgenden Sphären prägend, da hier die emotionale Sicherheit aufgebaut wird, die für die Ausbildung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung vorausgesetzt werden muss.

      Darüber hinaus bildet diese ontogenetische Perspektive auch das motivationale Bindeglied zwischen einer rekonstruktiven Gesellschaftskritik und potentiellem Widerstand. Wenn die Motivation für gesellschaftliche Kämpfe um Anerkennung nicht primär in der Orientierung an Ideen oder Prinzipien liegt, sondern in der Missachtungs- und Verletzungserfahrung intuitiver Gerechtigkeitsvorstellungen, dann bildet die erste Anerkennungssphäre eine wichtige Folie für die Identifikation von Missachtungserfahrungen.113

      Die zweite Stufe bildet die rechtliche Anerkennung, also die Anerkennung „eines jeden als ein autonomes, zurechnungsfähiges Handlungssubjekt“115, die den bisher begrenzten kommunikativen Rahmen der Liebes- und Freundschaftsbeziehungen und somit auch den Interaktionsbereich des Individuums erweitert. Es handelt sich auf dieser Stufe um kognitiv-formelle Anerkennungsverhältnisse, wobei das Recht die hier vorherrschende Anerkennungsform darstellt. Das Subjekt wird auf dieser Ebene nicht mehr nur in seiner Bedürfnisstruktur anerkannt, sondern als eine abstrakte Rechtsperson in seiner formellen Autonomie. Durch die in Rechtsverhältnissen erfahrene soziale Anerkennung und durch den darin unabhängig von persönlicher Wertschätzung erbrachten Respekt kann das Subjekt sein in der Primärbeziehung erworbenes Selbstvertrauen durch ein weiteres Element der Selbstbeziehung erweitern, die Selbstachtung, in welcher es sich als verantwortlich Handelnder erfährt. Das Subjekt kann sich selber achten, weil es die Achtung aller anderen verdient.116

      Die Form der rechtlichen Anerkennung setzt für Honneth ein postkonventionelles Entwicklungsniveau des Moral- und Rechtsverständnisses innerhalb einer Gesellschaft voraus. Dies zeigt sich daran, dass sich die Mitglieder einer Gesellschaft unter Reziprozitätsgesichtspunkten gegenseitig als freie Personen achten und ihre individuelle Autonomie bzw. „moralische Zurechnungsfähigkeit“117 innerhalb der Gesellschaft so garantieren, „dass ihr ein rechtlich institutionalisierter Daseinsraum selbstverantwortlicher Freiheit gewährleistet ist“118. Die Reziprozität der rechtlichen Anerkennungssphäre muss dabei durch zwei Gesichtspunkte gewährleistet werden: durch Legalität und Legitimität. Die Legalität bezieht sich auf den Gesetzesgehorsam von Subjekten innerhalb einer Gesellschaft, welcher von moralischen Motiven abgekoppelt werden muss. Somit folgt das einzelne Individuum den allgemeinen, für alle gültigen Gesetzen, schränkt seine Handlungsfreiheit ein und erkennt damit die gleiche Personenqualität aller anderen an. Die Perspektive der Legitimität verpflichtet die Mitglieder einer Gesellschaft dazu, ihre gesetzlichen Regelungen darauf hin zu überprüfen, ob sie dem Kriterium allgemeiner Zustimmungsfähigkeit entsprechen. „Gesetze müssen um der gleichen Freiheit aller willen anerkennungswürdig sein.“119 Ins Negative gewendet wären also jene rechtlichen Verhältnisse zu kritisieren, die die gleiche Freiheit