Bernhard Kohl

Die Anerkennung des Verletzbaren


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der Welt, Anderen und mir selbst generalisiert“160 wird, wodurch sich in gewissem Sinne eine weitere, die anderen Sphären der Anerkennung umfassende Ebene der Anerkennung auftut. Dadurch wird der denkerische Fortschritt erzielt, dass die soziale Interaktion zwischen Individuen nun nicht mehr aus der Beobachterperspektive betrachtet werden muss, sondern eine Binnenperspektive eingenommen werden kann, die nicht von außen die wechselseitige Bestätigung bzw. Anerkennung zwischen zwei Positionen konstatiert, sondern die vorgängige Erfahrung des Anerkennens aufweisen kann.161

      Das Problem, dass Honneth sich mit dieser Fortentwicklung einhandelt, besteht in der Frage nach der Motivation zur anerkennenden Haltung, die nun erneut begründungsbedürftig wird. Bisher war es die Herstellung eines ungebrochenen Selbstverhältnisses, das Anerkennung motivierte und die drei Anerkennungssphären miteinander verband. Nun wird Anerkennung zu einer primären Haltung des Selbst, die das Individuum anscheinend aus eigenen Antrieben einnimmt. Es existiert kein Anspruch der Dinge noch der eines personalen Anderen mehr, der das Subjekt veranlassen würde Anerkennung zu verleihen bzw. sich anerkennend zu positionieren. Aus der Aufgabe der Reziprozität im Anerkennungsverhältnis resultiert eine Motivationslücke.162

      Honneth sieht diese Schwierigkeit und sucht nach einem möglichen Lösungsansatz im Begriff der Verdinglichung bzw. Selbstverdinglichung.163 Unter Verdinglichung versteht er jenen Vorgang, „durch den in unserem Wissen um andere Menschen und im Erkennen von ihnen das Bewußtsein verlorengeht, in welchem Maß sich beides ihrer vorgängigen Anteilnahme und Anerkennung verdankt“164. Selbstverdinglichung ist dementsprechend der Prozess, der ein Individuum die vorgängige Anerkennung seiner selbst vergessen lässt. Im Gegensatz dazu steht eine Einstellung, nach der das Subjekt die eigenen Empfindungen und Wünsche für artikulierenswert hält, die Vorgängigkeit der Anerkennung, eine vorgängige Selbstbejahung also auch in Bezug auf das eigene Selbst anerkennt.165

      Die Motivation zu einer anerkennenden Haltung rührt also auch hier aus dem Bedürfnis nach einem ungebrochenen Selbstverhältnis her, welches das Individuum nur dann entwickeln kann, wenn es zu einer Affirmation der Widerfahrnisse, die ihm zustoßen, gelangt und diese im Sinne einer vorgängigen Selbstbejahung in das eigene Selbst integriert, wobei dieser primäre Selbstbezug allerdings „als eine Bestätigung zu interpretieren [ist | BK], die noch der Unterscheidung von pathologischen und gelungenen Formen des Selbst vorausliegt“166. Damit ergibt sich für das weiterentwickelte Anerkennungsverständnis, dass Anerkennung als „identisch mit einer bestätigenden und befürwortenden Haltung zur Welt, zu den Anderen und zu sich selbst“167 interpretiert wird. Hier ist schon Honneths moralischer Optimismus erkennbar, der sich in der Frage nach einem gesellschaftlichen Fortschritt durch den Kampf um Anerkennung noch verdeutlichen wird. Anerkennung könnte nämlich in diesem Sinne, wenn man bspw. mit Stanley Cavell argumentierte, der das „Gewebe sozialer Interaktion“ anerkennungstheoretisch auch im Hinblick auf negative Phänomene befragt, auch in unspezifischen Antwortgeschehen und folglich auch in negativen Reaktion gefunden werden.168 Gerade dieser Interpretationsrichtung folgt Honneth aber nicht, wenn er annimmt, dass „in Fällen einer gefühlsmäßig negativ erlebten Anerkennung immer ein Gespür dafür mitschwingt, dem Anderen in seiner Personalität nicht angemessen gerecht zu werden“169. Honneth spricht in Bezug auf diese kontrastierende Erfahrung auch von jenem Moment anerkennender Haltung, das herkömmlich als Gewissen bezeichnet wird.170 Er fügt also der anerkennenden Haltung immer noch ein Element der affektiven Bezogenheit, der positiven Vorgestimmtheit und des positiven Befürwortens hinzu und geht somit über den Ansatz Cavells hinaus.171 Nach Honneth ist das menschliche Selbst- und Weltverhältnis genetisch als auch kategorial zunächst an eine befürwortende Einstellung gebunden, „bevor dann andere, emotional neutralisierte Einstellungen daraus entspringen können“172. Dies hat zur Konsequenz, dass die „elementare Anerkennung“, auch wenn sie unterhalb der Schwelle liegt, auf der wechselseitige Anerkennung die Bejahung spezifischer Eigenschaften des jeweiligen Gegenübers mit sich bringt, notwendigerweise eine Bejahung und Befürwortung dieses Gegenübers impliziert. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass in der elementaren Anerkennung nicht spezifische, sondern unspezifische, aber gleichwohl qualitativ wertvolle Eigenschaften des Gegenübers bejaht und befürwortet werden.173

      Honneth benötigt für seine justierte Konzeption von Anerkennung die Antizipation einer normativen Form, die Anerkennung in ihren verschiedenen Sphären annehmen könnte, wenn alle Hindernisse überwunden wären. Anerkennung muss demnach notwendigerweise nicht nur in einem genetischen, sondern auch in einem sozialontologischen Sinn Vorrang besitzen. Nur so lässt sich ein Geltungsüberhang konstatieren, der einen sich erweiternden Horizont der Anerkennung einfordert. Darauf soll im Kapitel zur Missachtungserfahrung näher eingegangen werden.

      Diese Anerkennungssphären – Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung – sind nach Honneth integrierende Momente eines Konzepts von postkonventioneller Sittlichkeit, welches liberale Voraussetzungen um eine Konzeption des guten Lebens ergänzt. Diese Konzeption des Guten muss allerdings zwei anspruchsvolle Voraussetzungen erfüllen. Sie muss einerseits formal sein, um eine illiberale Identifikation mit partikularen Lebensentwürfen zu vermeiden. Andererseits muss eine gewisse materiale Bestimmbarkeit möglich bleiben, damit eine Sittlichkeitskonzeption gemeinschaftsstiftend-integrative Kraft innerhalb und für eine Gesellschaft entfalten kann.174

      Im nun folgenden Abschnitt der Arbeit wird ein thematischer Sprung auf das biblische Verständnis der Gottebenbildlichkeit als nicht ontologischer, sondern funktionaler Kategorie unternommen. Der Blick soll zunächst, noch vor der exegetischen Bearbeitung der entsprechenden Textstellen, auf die in der Auslegungsgeschichte erfolgte Dissoziation der biblischen Termini zaelaem und demut gerichtet werden. Diese Dissoziation wirkte sich in Richtung eines immer stärkeren ontologisch-materialen Verständnisses der Imago Dei aus.

      Insbesondere die Rezeptionsvorgänge der Patristik und des Mittelalters, welche die griechische Septuaginta (LXX) und die lateinische Vulgata als Bibelübersetzungen zur Verfügung hatten, weisen weitreichende Spekulationen über die beiden in Gen 1,26f. verwandten Termini zaelaem und demut auf, die dem heutigen exegetischen Befund nicht gerecht werden, die Tradition aber dennoch entscheidend prägten. Auf die beiden hebräischen Begriffe wurden so Bedeutungen und Normierungen übertragen, die eine qualitative Differenz zwischen beiden Substantiven einführte und somit der eigentlichen hebräischen Bedeutung nicht entspricht.175 Um es pointiert zu formulieren: Theologiegeschichtliche Bedeutsamkeit erlangte die priesterschriftliche Aussage von der Gottebenbildlichkeit erst, als man sie aus ihrem Kontext löste, die funktionale Bestimmung ontologisch fasste und die Blickrichtung der Beziehung von den Menschen zu Gott interpretierte.

      Dabei macht die historische Kritik einerseits auf den unaufgebbaren Primat der Offenbarungsgeschichte aufmerksam, erzeugt aber andererseits gleichzeitig eine Verfremdung des biblischen Textes zur eigenen Gegenwart, indem sie auf den Abstand der jeweiligen Gegenwart und der jeweiligen Rezeptionsvorgänge zu den biblischen Dokumenten hinweist. Durch diese Distanzierung wird die Differenz zwischen genuiner Textbedeutung und der späteren Auslegungsgeschichte, insbesondere bzgl. des Begriffsfeldes der Gottebenbildlichkeit deutlich und gleichzeitig die Auflösung einer nicht adäquaten Verknüpfung des Schriftverständnisses mit der späteren Wirkungsgeschichte möglich. So können ungerechtfertigte Traditionsansprüche, die sich explizit oder implizit auf die Schrift berufen von dieser Differenz zwischen Text und Auslegungsgeschichte her in Frage gestellt, auf ihre Legitimation geprüft und auch einer Revision unterzogen werden. Dabei sollte die Interpretation einer Schriftstelle, bedingt durch die Variationsbreite der Schriftzeugnisse, eine Pluralität von Verstehensweisen aufrechterhalten, um den Reichtum und die komplexe Vollgestalt der Schriftaussagen ernsthaft zum Einsatz zu bringen.176

      So ergibt sich außerdem eine Parallele zwischen der notwendigen Revision der Dissoziation zwischen funktional-relationaler und ontologischer Verständnisweise der Gottebenbildlichkeit, wie sie sich in der Tradition bei der Deutung der Begriffe