Normalfall wird dies aber nicht bewusst studiert, sondern in Prozessen von Sozialisation eingeübt. Dieser so eingeübte Modus des Wissens reicht aber aus, um teilnehmen zu können. Der Katholizismus funktioniert in dieser Hinsicht bis heute erstaunlich gut. Aber immer, wenn etwas gut funktioniert, wird es auch in andere Kontexte transferiert. Und wenn der Katholizismus hierzulande im 20. Jahrhundert als Vorbild politischer Form herhalten musste (mit im Übrigen verheerenden Folgen), so heute seine Liturgie als Vorbild fußballerischer Ästhetik.
Wer katholisch gebildet auch nur einmal ein Stadion betreten hat, sich hat hineinziehen lassen in das Spiel zwischen den Mannschaften und den Fans (es wird ja nicht nur auf dem Platz gespielt), weiß, dass es nicht der doch deutlich wortbetontere Protestantismus ist, der hier formgebend ist. Die Liturgie ist eingeübt: Der Einzug der Mannschaften folgt einem vorgeschriebenen Ritual, die Spieler werden in einer Art Heiligenlitanei aufgerufen, das Spiel auf dem Platz wird von Wechselgesängen begleitet, es gibt Fußballgötter im Kampf zwischen Gut und Böse (und der Manichäismus feiert fröhliche Urstände: es gibt Mannschaften, die sind nur in der eigenen Stadt gemocht – sozusagen Inkarnationen des schlechthin Bösen), ein Amt entscheidet zwar nicht unfehlbar, aber es entscheidet, Pokale werden gen Himmel gereckt, es gibt Helden und Märtyrer – und die wahren Fans würden das Spiel am liebsten im Weihrauchdunst erleben… Ist nicht angesichts dieser liturgischen Inbrunst im Stadion von religiösem Erleben oder gar von Religion zu reden?
Magnus Striet
Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg; Arbeitsschwerpunkt: Frage, wie heutzutage noch (wenn überhaupt) verantwortet von Gott geredet werden kann und was überhaupt mit diesem Menschheitsbegriff gemeint sein könnte; den großen Sieg gegen die Bayern verpasste er, weil er auf Vortragsreise in diesen Fragen war.
SCHWIERIGKEITEN MIT DEM RELIGIONSBEGRIFF (UND THEOLOGISCHEN ÜBERTRAGUNGEN)
Um etwas nüchterner zu werden: Der Begriff des Religionsersatzes ist zwar beliebt, aber er verwischt das damit angesprochene Problem eher, als dass er dies löst. Würde man im Fall von Fußball von Religionsersatz sprechen, so würde im Hintergrund die Überzeugung arbeiten, dass mit hinreichender Gewissheit und d.h. mit ausweisbaren Gründen zwischen einer oder gar der wahren oder falschen, d.h. wahre Religion ersetzenden Religionen unterschieden werden kann. In den engeren religionstheologischen Debatten hat diese Überzeugung zu heftigen Auseinandersetzungen und zur Ausbildung entsprechender Extrempositionen geführt.
Während die einen meinen, sagen zu können, die eigene Religion sei die einzig wahre Religion, bleiben andere skeptisch, führen die eigene religiöse Überzeugung beziehungsweise das eigene religiöse Erleben auf biographische Prägung zurück, begreifen konkrete Ausformungen von Religion als anthropomorphe Konzeptionen des einen, aber prinzipiell unsagbaren, durch keinen menschlichen Begriff bestimmbaren Göttlichen und meinen so, die Welt befrieden zu können. Denn wenn alle erst einmal begriffen haben, dass sie nur Annäherungen an das ‚Eine‘ sein können, muss man sich nicht mehr streiten.
Auf die Welt des Fußballs übertragen hieße dies: Alle müssten nur begreifen, dass sie für ihre spezifische Vereinsleidenschaft nichts können, man kann eben nicht zugleich Schalker und Dortmunder sein, beides ist – wie man dann will – Glück oder Unglück der Geburt zugleich. Es wäre somit durchaus möglich, im Fußballstadion Toleranz zu erlernen, eine gemeinsame Lektüre von Lessings Ringparabel in ökumenischen Fanprojekten könnte hier sehr hilfreich sein. Wenn es nur nicht die mit der Muttermilch eingesogene Anhängerleidenschaften gäbe, welche die Fairnessforderung so manches Mal dem Fegefeuer doch recht ähnlich werden lässt.
Aber nur von Geschick zu sprechen, griffe dann doch zu kurz. Siege und Niederlagen fallen im Fußball schließlich nicht vom Himmel. Nur wer verantwortet diese? Ich bin skeptisch, ob das von so manchen Spielern und Zuschauern gen Himmel gerichtete Gebet wirklich dazu verhilft, dass der Ball ins gegnerische Tor geht. Gottes willkürliche Gnadenwahl bei Augustinus hat die Menschheit lange genug geplagt, diese Denkfigur sollte nicht zusätzlich bei denen, die zumeist mit Niederlagen zu rechnen haben, zusätzliche Trübsal verursachen. Nein, Siege beim Fußball sind das Ergebnis harter Arbeit, die Theologie hat hierfür den Fachbegriff Pelagianismus ausgeprägt, und von Geld. Dies ruft die Differenzidentifikationskünstler auf den Plan, was mich zu der Frage zurückführt, ob der Fußball nicht doch eine reine Ersatzreligion sei. Immerhin könnte es ja sein (hier entstehende namentliche Assoziationen sind nicht von mir zu verantworten), dass der Fußball von heute nichts anderes als Götzendienst ist, das hinterlistige Ergebnis des einen großen Götzen, der die Welt regiert – Geld. Unter einer solchen Hinsicht hätte Fußball immer noch etwas mit Religion zu tun, jedenfalls mit einer, die die Unterscheidung von Gott und Götze und damit die Unterscheidung von einem wahren und einem falschen Leben kennt. Ich komme darauf zurück.
Nun bin ich immer wieder irritiert, wie unkritisch – zumal in der Theologie – der Religionsbegriff verwendet wird beziehungsweise wie leichthin Phänomene als Religionsphänomene, als religionsaufgeladene oder auch als religionsbeerbende Phänomene beschrieben werden. Als ob feststünde, was Religion sei. Oder als ob der Mensch von Natur aus religiös sei, was christlich theologisch denkende Menschen dann gar dazu verleitet, zu behaupten, ein jeder Mensch habe eine natürliche Gottesbegabung, so dass aus Religiosität Gottesbezug wird. Allerdings bleibt natürlich die Frage, ob ein bis ins Ekstatische gesteigertes Erleben bereits eine Gotteserfahrung verbürgt. Man könnte sich zu dieser Behauptung verleiten lassen angesichts der im Stadion zu beobachtenden Leidenschaftsausbrüche. Man denke nur an die Freiburger, die anlässlich des Sieges gegen den übermächtigen Götzen Bayern im Jahre 2015 in einen gen Schwarzwald brausenden, geradezu orgiastischen Jubel verfielen.
Normalerweise sind es andere Grenzerfahrungen, die SC-Anhänger im Schwarzwaldstadion machen, die von Niederlagen. Zumindest dann, wenn der SC in der ersten Bundesliga spielt. Dies gehört zum Schicksal von Menschen, die ins Dasein geworfen dazu verurteilt sind, einem kleinen Verein anzuhängen. Häufig sind es Niederlagen, aber manchmal auch die Erfahrung unbändigen Glücks. Die Erfahrung schlechthinniger Abhängigkeit ist in solchen leidenschaftlichen Verbindungen, die ja zumeist halten, bis dass der Tod sie scheidet, sehr verbreitet. Man kann den Ort aus beruflichen Gründen wechseln oder weil eine Beziehung dazu verlockt, aber im Herzen bleibt man auf ewig Gladbacher. Selbst Herzensentscheidungen können eine bittere Seite haben. Kein Stadionbesuch mehr. Aber religionsphilosophisch betrachtet, ist eine solche Innerlichkeit der eigenen Leidenschaften aufregend. Gibt es nicht die Überzeugung, dass Erfahrungen von Abhängigkeit oder, wie diese Erfahrungen auch gerne genannt werden, Kontingenzerfahrungen, bereits religiöse Erfahrungen seien? Ist das Stadion ein Anders-Ort religiöser Erfahrungen?
NÜCHTERNHEIT UND DIE ALTE PHYSIOTHEOLOGIE
Ich rate zur Nüchternheit, auch wenn es – zumindest den von der Leidenschaft für den Fußball Betroffenen – kaum möglich ist, diese beizubehalten. Gemacht werden im Stadion zunächst einmal Erfahrungen. Wer hingeht, weiß zumeist, was ihn erwartet – und freut sich darauf. Soziologen können beschreiben, warum gerade in auf Rationalität und damit auf Selbstkontrolle setzenden Gesellschaften der Fußball seine Sogwirkung entfaltet: Er entlastet vom Alltag, setzt einen Gegenakzent. Niemand fragt, warum ich jubele oder fluche, eine Wurst esse. Alle tun dies, das Leben ist selbstverständlich. Man darf sich ungehemmt freuen, und wenn es eine Niederlage hagelt, ist man auch nicht allein. Es macht schlicht Spaß. Nach der Saison ist vor der Saison, einmal katholisch, immer katholisch – die Dauerkarte wird erneuert.
Selbstverständlich kann man jetzt aus der Beobachterperspektive Theodor W. Adorno zitieren, es gebe nun einmal kein richtiges Leben im falschen – übersetzt: Wer sich der Leidenschaft eines Anhängers hingibt, hat dies noch nicht begriffen. Ob Adorno aus dieser Einsicht freilich die praktische Konsequenz gezogen hätte, sich zu weigern, auch nur einen Fuß ins Stadion zu setzen oder aber Stadiongänger zu maßregeln, bin ich nicht so sicher. Auch Adorno wusste, dass es zu leben gilt. Und dass die Welt im Medium des Geldes organisiert wird, das Geld zum Mammon werden kann und auch wird, ist selbstverständlich auch richtig. Aber kommt man nur moralisierend durch das Leben oder aber kann Moralisierung nicht auch zum wohlbeglückenden Habitus werden?
Ich rate deshalb nochmals zur