Georg Bergner

Volk Gottes


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1.3 Ein Blick nach Frankreich und Belgien: Die Laienfrage

      Jean Daniélou skizziert 1946 in einem Artikel die aus seiner Sicht maßgeblichen theologischen Herausforderungen seiner Zeit:160 Der Modernismus und die mit ihm einhergehende zunehmende atheistische Weltanschauung fordern die Kirche als ganze und die Theologie im Besonderen heraus (101, 103). Um die entstehende Kluft zwischen Glauben und Leben in der Welt zu überbrücken, muss sich die Theologie aus den festen Mauern des scholastischen Denkens herausbegeben und zugleich der Versuchung einer rationalistischen, seelenlosen Theologie widerstehen (101f). Eine Neubelebung erwächst, so Daniélou, aus der Rückkehr zu den biblischen, patristischen und liturgischen Quellen des Glaubens (105–111). Insbesondere die Patristik entdeckt dabei die Bedeutung der Geschichte als Heilsgeschichte der Verwirklichung des göttlichen Heilsplans zur Erlösung und Erneuerung der gesamten Welt neu. Damit wird sie für das zeitgemäße philosophische Denken und seine zentrale Kategorie „Geschichte“ anschlussfähig (108). Zudem dringt, etwa bei den Kirchenvätern des Ostens, die gemeinschaftliche, soziale Dimension des Glaubens wieder stärker in das Bewusstsein (109). Letztlich versuchen die Laienbewegungen der Katholischen Aktion, der liturgischen und biblischen Bewegung verstärkt, die Verbindung zwischen Glauben und Leben, Lehre und Praxis zu knüpfen (109ff). Eine weitere Herausforderung der Theologie besteht in der Auseinandersetzung mit der modernen Philosophie in ihrer wissenschaftlichen, u.a. auch marxistischen sowie existenzialistischen Ausrichtung (113f). Die Verknüpfungsleistungen großer christlicher Denker wie Kierkegaard, Marcel oder Teilhard de Chardin sind dabei von besonderer Bedeutung (114f). Die dritte Herausforderung besteht in der theologischen Beschreibung des Wirkens der Christen in der modernen Welt (122). Die Entwicklung einer zeitgemäßen Spiritualität, die modernes Lebensgefühl und Glauben miteinander verbindet, gehört genauso wie eine Neubewertung der Rolle der Laien zu den vordringlichen Fragen der Zeit (122f) Zudem stellt sich die Frage, wie sich das Christentum auch in andere Kulturen inkarnieren kann, eine Frage, die zeitgenössische missionarische Strömungen aufwerfen (123f).

      Mit diesem Panorama der aktuellen Herausforderungen umreißt Daniélou die Methodik eines neuen Stils der Theologie, der sich ab den 1930er Jahren in Frankreich langsam und z.T. unter argwöhnischer Beobachtung durch das Lehramt etabliert. Diese „nouvelle théologie“ zeichnet aus: die kritische Auseinandersetzung mit dem Neuthomismus, mit der modernen Philosophie und den anderen christlichen Konfessionen, die Wiederbelebung des (heils-)geschichtlichen Denkens, die Erforschung der biblischen, patristischen und mittelalterlichen Quellen des Glaubens.161 Die „neue Theologie“ etabliert sich vor allem an zwei Orten: Im jesuitischen Scholastikat Fourvière bei Lyon lehren und lernen etwa Henri de Lubac, Jean Daniélou und Hans Urs von Balthasar, in der Dominikanerhochschule von Le Saulchoir (zunächst in Kain-lez-Tournai, Belgien, ab 1937 in der Nähe von Paris) u.a. Marie-Dominique Chenu, Henri-Marie Féret und Yves Congar.162 Zu einem weiteren Ort der theologischen Erneuerung entwickelt sich nach dem 2. Weltkrieg zudem die Katholische Universität Löwen in Belgien. Léon-Joseph Suenens, der spätere Erzbischof von Mechelen, übernimmt 1940 das Amt des Vize-Rektors der Universität.163 In seiner Amtszeit, die zur Besatzungszeit eher politisch orientiert ist, bildet er einen theologischen Zirkel, zu dem u.a. Lucien Cerfaux164, Gerard Philips und Gustave Thils gehören.165 Zusammen mit Suenens’ Studienfreunden André Charue und Emile De Smendt, den späteren Bischöfen von Namur und Brügge wird diese belgische Gruppe entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der Kirchenkonstitution und die Verankerung des „Volk Gottes“-Begriffs in ihr nehmen.

      Ohne an dieser Stelle näher auf die Leistungen der Hauptvertreter der „nouvelle théologie“ im ekklesiologischen Diskurs der Vorkonzilszeit einzugehen166, kann der Stand der Forschung Ende der 50er Jahre, Gustave Thils folgend, in dieser Weise zusammengefasst werden167: Die Ekklesiologie profitiert von der Erschließung der theologischen Grundlagen und vom ökumenischen Dialog (94). Sie überwindet so ihren seit der Reformation kultivierten apologetischen Grundton und konzentriert sich auf zwei Schwerpunkte: die innere, gnadenhafte Dimension der Kirche und ihre gemeinschaftliche, soziale Dimension. In diesem Zusammenhang stehen auch das hierarchische Amt und die sichtbare Struktur der Kirche in der Diskussion (95). „Leib Christi“ gilt als bevorzugte Lehrformel einer ganzen Generation, da sie etwa die Verbindung Christi und der Kirche beschreibt und zu einer Neubewertung des Beitrags aller Glieder des Leibes, also auch der Laien, anregt (96). Daneben hat sich in der systematischen Betrachtung der Kirche eine eher biblisch und geistlich inspirierte Ekklesiologie unter dem Leitmotiv des „Reiches Gottes“ etabliert (96f). Deutlich tritt jedoch auch die Lehre vom „Volk Gottes“ hervor, die „zur thematischen Synthese der zweiten Hälfte des Jahrhunderts werden könnte“ (96). Der Begriff ist, so Thils, deshalb geeignet, weil er biblisch begründet ist, die sichtbare Seite der Kirche betont und zudem den heilsgeschichtlichen Charakter der Kirche hervorhebt. Darüber hinaus lässt sich mit ihm auch die aktive Teilnahme aller Gläubigen gut bestimmen (96). Es dürfte allerdings, so die Einschätzung des belgischen Theologen, schwierig werden, die Ekklesiologie von einem biblischen Begriff alleine aus aufzubauen. Möglicherweise bietet sich seiner Ansicht nach das theologische Konzept der „Sakramentalität“ für eine theologische Synthese an (97), außerdem sind die Universalität, Katholizität und die missionarische Sendung der Kirche unter den Bedingungen der modernen Welt neu zu bedenken (97ff).

      In dieser kurzen Zusammenfassung zeigt sich die Aufnahme und Weiterentwicklung der ekklesiologischen Diskussion seit den 40er Jahren, wie sie sich im französischen Sprachraum darstellt. Thils, der in der Lehre von der Kirche die zentrale theologische Frage des 20. Jahrhunderts sieht, verweist jedoch, ähnlich wie Daniélou, auf die Notwendigkeit einer Ergänzung der Ekklesiologie durch die christliche Anthropologie. So ist die Frage nach der Bedeutung des einzelnen Gläubigen für ihn von zentraler Bedeutung (113): Man könne in der Diskussion der sichtbaren Seite der Kirche nicht beim hierarchischen Amt stehenbleiben, sondern müsse den Ort und die Bedeutung aller Getauften bestimmen. So gehe es um die Neubewertung des Sakraments der Taufe, das Priestertum der Gläubigen, die tätige Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie und den Weltbezug des Menschen (113). Das Laientum und die Suche nach einer Theologie des Laientums spielt insbesondere im französischsprachigen Raum eine herausragende Rolle und wird für die spätere Erarbeitung von „Lumen gentium“ von entscheidender Bedeutung sein.

      Ähnlich wie in Deutschland die Jugendbewegung und die liturgische Bewegung Ausgangspunkte einer erneuerten Ekklesiologie sind, ist dies für Frankreich und Belgien die Katholische Aktion. Diese maßgeblich durch Pius XI. geförderte Bewegung hatte das Ziel, die katholischen Laien zum aktiven Glaubenszeugnis in allen Bereichen der modernen Welt zu ermutigen.168 Unter dem Dachverband der „Französischen Katholischen Aktion“ finden sich in den 1950er Jahren ca. 80 verschiedene Verbände, unter denen vor allem die Jugendverbände an Mitgliederzahl und Bedeutung herausragen.169 Zu ihrem Programm gehören die geistliche Vertiefung durch das Evangelium, die Einladung zu einer innerlichen Spiritualität, die Liebe zur Kirche und das soziale Engagement.170 Im Bemühen, Glauben und Leben zusammenzusehen und aktiv an der modernen Welt teilzuhaben, entsteht zum einen das Bedürfnis nach einer angemessenen Laienspiritualität, zum anderen ein neues Selbstbewusstsein der Laien. Am Prinzip der Leitung der Katholischen Aktion durch den Klerus, die in den Mitgliedern eher Helferinnen und Helfer der Bischöfe und Priester sieht, entzündet sich zunehmend Kritik.171 Deutlich artikuliert diese etwa Hans Urs von Balthasar, wenn er die Grundidee der Katholischen Aktion als Verlängerung der Hierarchie in die Welt hinein bezeichnet.172 Eine äußerliche Delegation der Laien reiche nicht aus. Vielmehr müssten diese einen neuen mitverantwortlichen Ort in der Kirche finden, der sich etwa vom „allgemeinen Priestertum“ ableiten lässt.173 Gegen das Bild des Priesters als Fachmann in Glaubensfragen und des Laien als Fachmann in Fragen der Welt setzt Balthasar die Forderung nach einer Glaubensvertiefung und kontemplativen Befähigung der Laien, damit sie durch ihre persönliche Heiligkeit wirksam in der Welt tätig sein können.174 Es geht ihm um ein Aufbrechen einer klerikalen Verengung der Kirche, um ein „Anrücken gegen Westen, gegen Rom des Eisernen Vorhangs, hinter welchem die Kirche als klerikale Institution unerbittlich vernichtet wird.“175 1954 attestiert von Balthasar „die Stunde der Laien“, die sich im Aufbruch der katholischen Bewegungen