Christoph Benke

Geist & Leben 3/2016


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entgeht. In Fernsehsendungen werden diejenigen, die sich über die Schamgrenze hinaus bloßstellen, nochmals bloßgestellt. Dahinter verbirgt sich offensichtlich ein verletztes Selbstwertgefühl, ferner die Not mit der eigenen Lebensgeschichte umzugehen und die Sehnsucht, man selbst sein zu dürfen. Scheinbare Schamlosigkeit bewegt sich also keineswegs in einer schamfreien Zone.

      Der Psychoanalytiker Léon Wurmser spricht von einer „Maske der Scham“5: „Schamaffekte tarnen sich gleichsam in ‚schamabwehrenden Deckaffekten‘, sei es im Trotz, im Spott oder sogar im Stolz, mithin im Gegenteil dessen, was als Scham erlebt wird.“6 So kann sich paradoxerweise hinter aggressiv zur Schau gestellter Schamlosigkeit ein Moment von Schamangst verbergen: „Die Angst, beschämt zu werden, wird gleichsam offensiv gewendet.“7

      In gleicher Weise definiert der Soziologe Norbert Elias im Gegenzug zur heute verbreiteten Vorstellung, Scham schwinde in der historischen Entwicklung mehr und mehr, Schamgefühle als „verinnerlichte Zwänge der Selbstkontrolle, mittels derer die Individuen lernen, ihre Affekte zu zügeln und damit zu verbergen. Sie setzen voraus, dass sich (…) eine Sphäre der Intimität ausgebildet hat, die durch Schamgrenzen gesichert wird.“8 Schamgefühle sichern also Intimität, auch wenn sich die Schamgrenzen verschoben haben, gerade im körperlichen Bereich.

      Diese zeitgeschichtliche Analyse von Schamgefühlen hebt heraus, dass Scham ein komplexes Gebilde ist, das manchmal verdeckt und manchmal offensichtlich ist. Gerade wenn sie verloren scheint, mag es lohnenswert sein, die verschobene Schamgrenze zu identifizieren.

      Bleibt das Schamgefühl in der religiösen Praxis unbeachtet, führt es zu Entfremdung, zu Exklusion und Widerstand. Gerade Religion ist etwas sehr Persönliches, das mit Scham behaftet ist, beispielsweise die innere Frage, ob ich gläubig genug bin oder ob ich zu fromm wirke. Diese Fragen mag der eine oder andere unbewusst fühlen, jedenfalls werden sie selten thematisiert. Religiöse Äußerungen und christliche Glaubensvorstellungen kommen in der alltäglichen Kommunikation, zumindest im europäischen Raum, kaum vor. Glaube ist gar ein Tabu. Gibt es also ein verschämtes Christentum, dem dezidiert bekennende Christen, wie Freikirchen und Charismatiker, bewusst entgegen wirken möchten?

       Verschämtes Christentum

      Meist weiß man nicht, wie Kolleg(inn)en am Arbeitsplatz oder Freunde im Sportverein ihrem Glaubensleben Ausdruck geben, ob sie ab und zu beten oder in der Bibel lesen. „Der Verzicht darauf, religiös in persönlicher Weise zu kommunizieren, ist mehr als eine kulturelle Konvention, der man als gesellschaftlicher Regel folgt. Er ist auch mit der Empfindung gefüttert, dass Religion etwas vom Innersten einer Person offenbaren kann, mithin etwas von ihr zeigen würde, das nicht nach außen gehört.“9 Religion hat jedenfalls etwas mit Emotion zu tun und mit etwas sehr Persönlichem, das im Zusammenhang mit einer Schamgrenze steht.

      Die Vorstellung von einem verschämten oder distanzierten Christentum kommt v.a. in Bezug auf distanzierte Kirchlichkeit zur Sprache. Besonders suchende Menschen, die sich noch nicht ganz mit der Kirche und ihrem Glauben identifizieren wollen, empfänden es als unangenehm, wenn sie mit denen verwechselt würden, „die ihre Religiosität so exponiert leben, wie die kleine Schar derjenigen, die sonntags zum Gottesdienst kommen“10. Allerdings stellt Fechtner heraus, dass es sich bei distanzierter Kirchlichkeit nicht nur um einen kirchentheoretischen Aspekt handelt, sondern dass die religionspsychologische Perspektive die Innenseite der Medaille ist – nämlich eine emotionale.11 Sich von einem kirchlichen Teilnahmeverhalten zu distanzieren ist eine innere Abgrenzung in der persönlichen Identitätsbildung. Als kirchlich Distanzierte(r) greift man punktuell in außergewöhnlichen Situationen des Lebens auf Kirche zu und braucht ansonsten Kirche oder einen Gottesdienst nicht. Die innere Scham besteht darin, dass man nicht als kirchlich Bedürftige(r) identifiziert werden möchte, sondern die emotionale Distanz als innere Intimität empfindet. „Distanzierte Kirchlichkeit erscheint als eine Form des Christentums, das in den Grenzen der Scham gelebt wird.“12

      Mit dieser Definition vom „distanzierten Christentum“ soll nun der Begriff der „scheuen Frömmigkeit“ von Thomas Halik in Verbindung gebracht werden.13 Halik beschreibt damit eine Form der Spiritualität, die Glaube und Kirche v.a. aus der Distanz beobachtet, die noch nach einem eigenen Stil der Frömmigkeit sucht und die sich noch vorrangig im Modus des Fragens befindet. Er vergleicht diese Menschen scheuer Frömmigkeit mit Zachäus, der sich neugierig, aber aus der Distanz Jesus nähert und nach der Begegnung mit ihm, nicht zwingend zu seinem Jünger, zu einem gläubigen Mensch wird. Diese Menschen möchten sich in ihrer Frömmigkeit nicht zeigen, Religion halten sie für privat. Die Öffentlichkeit als religiöses Forum würde in ihnen emotionale Scham auslösen.

      Dennoch ist es diesen Menschen möglich, sich religiös öffentlich zu zeigen, „wenn dies eingefasst wird in institutionelle Formen (…), auch wenn sie vielen Umstehenden eher fremd anmuten mögen. Aber diejenigen, die sich beteiligen, sind nicht ‚privat‘ unterwegs, sondern agieren in einer rituellen Rolle.“14 Bei einer Prozession oder bei einer Erstkommunion können sie sich durchaus religiös zeigen. Allerdings darf auch hier die Schamgrenze nicht überzogen werden. Eine zu aktive Beteiligung am liturgischen Geschehen würde ein Unwohlsein auslösen, das aus der Scham heraus eine innere Distanz und Blockade hervorrufen würde.

      An dieser Stelle soll das Phänomen der „scheuen Frömmigkeit“ jedoch noch weiter gefasst werden. Nicht nur bei den Distanzierten oder den Suchenden oder den Neugierigen gibt es diese Scheu oder Nüchternheit, sondern gerade auch bei den tief Verwurzelten im Inneren der Kirche. Glaube ist mehr als katechetisches Wissen und bildet sich in der eigenen Subjektwerdung als persönliche Erfahrung, die gerade in ihrer Emotionalität nicht zu fassen ist, sondern in einer geheimnisvollen Distanz steht. Diese sehr persönliche Erfahrung des Glaubens, des Entdeckthabens des Heiligen, ist etwas emotional Zerbrechliches, das viele nicht vor sich hertragen und nur im geschützten Rahmen artikulieren möchten. Daher meine ich, dass verschämtes Christentum im Bezug auf eine „scheue Frömmigkeit“ einen geschützten Raum und Respekt in der religiösen Praxis braucht, um die religiöse Schamgrenze persönlich ziehen zu können. Kirchenräume bieten dazu häufig einen Entscheidungsspielraum, der Distanz für Scheue im Rückraum hinter Säulen oder Nähe exponiert in den vorderen Bänken bietet.

      Im Gegensatz zu dieser „scheuen Frömmigkeit“ steht der biblische Missionsauftrag, Bekenntnis für den Glauben in aller Welt abzulegen und dieser Auftrag scheint ein Kontrast zu dem persönlich Heiligen zu sein, das nach einem Schutzraum ruft. Lässt sich im Rahmen des Missionsauftrags die „scheue Frömmigkeit“ halten oder braucht es zu einem verschämten Christentum auch ein bekennendes Christentum und in welcher Beziehung könnten sie zueinander stehen?

       Bekennendes Christentum

      Zweifellos kann der Glaube auch implizit bezeugt werden, indem das eigene Leben ihn erfahrbar macht und ihn so bezeugt. Im Zeugnis wird Glaube kommuniziert und bekannt. Der Glaube wird nach außen hin bekannt gemacht – im Sinne eines Zeugen. Ein implizites Zeugnis kann dann dazu führen, dass man zum Bekenntnis herausgefordert wird und dafür Zeugnis ablegt. Deutlicher als das implizite Zeugnis ist das Bekenntnis, durch das der Glaube nachdrücklich bezeugt wird. Bekennen meint eingestehen und zugeben. Das Bekenntnis ist unmissverständlich. Im Mittelalter wurde der Begriff „bekennen“ im Sinne von „bekanntmachen“ genutzt. Bekennendes Christentum meint hier das explizite Zeugnis und Bekanntmachen des Glaubens.

      Diesem Auftrag fühlen sich v.a. viele Freikirchen, charismatische Erneuerungsgruppen und neue geistliche Bewegungen verpflichtet. Dabei spielt das persönliche Zeugnis eine wichtige Rolle, das vor einer großen Gruppe in der Öffentlichkeit preisgegeben wird. Das Zeugnis erzählt meist von einer persönlichen Glaubenserfahrung, die das Leben des Gläubigen verändert hat. Ein weiteres Kennzeichen ist das öffentliche, freie Gebet, das normalerweise an Christus gerichtet ist. Markant schließlich ist die emotionale Musik der Lobpreislieder, dem Worship. Die Lieder sind sehr eingängig, gehen unter die Haut und beinhalten kurze, klare Glaubensbotschaften. Diese Art der Frömmigkeit zieht Menschen aus einem großen Umkreis zusammen. Die Antworten auf Fragen des Lebens und des Glaubens sind meist sehr kompakt und in ihrer Komplexität vereinfacht.

      Dadurch