Leonhard Lehmann

Vom Beten zur Kontemplation


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andere Weise, als Menschen miteinander sprechen. Gott als JHWE, als der Ich-bin-da, hat schon gesprochen durch seine Schöpfung, durch seine Geschichte mit dem auserwählten Volk Israel, durch die Propheten und zuletzt und endgültig – wie wir Christinnen und Christen glauben – durch seinen Sohn Jesus Christus, geboren von der Jungfrau Maria, gekreuzigt unter Pontius Pilatus, auferstanden von den Toten und heimgekehrt zum Vater.

      Christinnen und Christen haben ihren Namen von diesem Jesus, dem Christus, dem Gesalbten Gottes. Dieser stand mit Gott in so inniger Beziehung, dass er ihn Abba, Papa, Vater nannte. Die Freunde, die um Jesus waren, spürten, wie innig diese Beziehung Jesu zum Vater war; sie merkten, dass sie ihm Kraft gab und Vertrauen. Daran wollten sie teilhaben. Darum baten sie Jesus: „Herr, lehre uns beten“ (Lk 11,1). Darauf lehrte er sie das Vaterunser. Es ist das Gebet der Kirche geworden. Fast bei jeder Liturgie kehrt es wieder: Es gehört zum Morgengebet (Laudes) wie zum Abendgebet (Vesper), seit Cyrillus von Jerusalem (315–387) auch zur Eucharistiefeier vor dem Empfang der Kommunion, zur Feier des Abendmahls, zur Taufe, zur Hochzeit, zum Trauergottesdienst. Selbst wer nur selten aus diesem oder jenem Anlass an einem Gottesdienst teilnimmt, trifft auf dieses Gebet. Es begleitet das Leben vieler Christinnen und Christen, besonders jener Frauen und Männer, die regelmäßig am Stundengebet der Kirche teilnehmen, sei es in Pfarrgemeinden oder in klösterlichen Gemeinschaften. Darum gibt es seit den Kirchenvätern bis heute viele Kommentare zu diesem Gebet des Herrn. Es bildet die Mitte der Bergpredigt und ist das einzige Gebet, das Jesus seine Jünger gelehrt hat. Er zeigte ihnen damit positiv, wie vertrauensvoll sie beten sollen, wie kurz das Gebet sein darf und wie nüchtern. In diesem Zusammenhang warnte er sie auch vor den Fehlformen des Betens: „Wenn ihr betet, so macht nicht viele Worte, plappert nicht wie die Heiden, bietet keine öffentliche Schau, sondern zieht euch in eure Kammer zurück und betet im Verborgenen zu eurem Vater, der ins Verborgene sieht“ (Mt 6,5–7). Es gibt das persönliche, das gemeinschaftliche und das öffentliche Beten, das Beten allein, in der Familie oder Gruppe und das Beten mit dem Volk Gottes in den öffentlich angezeigten Räumen und Zeiten, besonders am Sonntag. Dann ist es auch mit Gesängen, Gebärden, Gesten und mit einem rituellen Ablauf verbunden, der verschiedene Rollen für Männer, Frauen und Kinder einschließt. Wir sprechen dann von Liturgie. Je nach Jahreszeit ist sie verschieden geprägt. Da in ihr die Ereignisse des Alten und vor allem des Neuen Testamentes, das Leben Jesu von der Geburt über sein öffentliches Wirken und Leiden, seine Auferstehung bis hin zu seiner Himmelfahrt und erwarteten Wiederkehr gefeiert werden, kennt der liturgische Kalender die ganze Skala von Farben und Tönen.

      Wiederholt mahnt Jesus seine Jünger, wachsam zu sein und zu beten (vgl. Lk 6,28; 11,9–13; 22,46). Auch die Briefe des Apostels Paulus und die Pastoralbriefe sind voll mit Weisungen wie „Betet ohne Unterlass!“ (1 Thess 5,17; Röm 15,30; Eph 5,19–20; Kol 4,2–4; 1 Tim 2,1). Demnach ist Beten das Wichtigste im Leben der Christinnen und Christen. Dahinter steht die Erfahrung: Aus den Augen, aus dem Sinn! Wie sonst hätten die Jünger nach der Himmelfahrt Jesu den Glauben an ihn lebendig halten können, wenn sie nicht seine Worte und Taten in Erinnerung gerufen, nicht die Eucharistie zu seinem Gedächtnis gefeiert hätten, wie er es selbst im Abendmahlsaal gewünscht hatte? In jenem Abschiedsmahl hat er selbst sein bevorstehendes Leiden und seinen Tod als „für euch und für alle“ – wie es im Einsetzungsbericht der Eucharistiefeier heißt – gedeutet und seine Freunde gebeten: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19), d.h., feiert dieses Mahl im Gedenken an mich, zur Erinnerung an mich. Ihr seid dann nicht nur in Gedanken mit mir verbunden, sondern leibhaftig, wie eine Rebe mit dem Weinstock, denn das Brot, das ihr brecht und teilt, „ist mein Leib“, der Wein, den ihr trinkt, „ist mein Blut“ (Lk 22,19; 1 Kor 11,24). In diesen Zeichen „bin ich bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).

      Das Christentum hat auf Grund seines Glaubens, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat und dieser zur Erlösung des Menschengeschlechts Mensch geworden ist, gearbeitet und gelitten hat, am Kreuz gestorben und am dritten Tag wieder auferstanden ist, ein sakramentales Verständnis von der Liturgie. Diese bringt nicht nur eine Idee zur Kenntnis, informiert über das, was Jesus gelehrt und getan hat, sondern feiert ihn mitten unter uns hier und heute. Wir lesen bzw. hören seine Worte aus der Heiligen Schrift und antworten mit Psalmen und Gesängen, die zum großen Teil auch wieder aus der nämlichen Schrift stammen bzw. aus der Tradition. So verbinden sich Wort und Antwort, Vergangenheit und Gegenwart. Zu den Worten kommen die Zeichen, die anschaulich machen, was im Wort geschieht: das Wasser bei der Taufe, das Chrisam bei der Firmung, Brot und Wein bei der Eucharistie, das Öl bei der Krankensalbung. Über diese Elemente spricht der Priester jeweils entsprechende Worte: Ohne diese Worte entsteht kein Sakrament (Augustinus: „Accedit Verbum ad elementum et fit Sacramentum“).

      In der Didache, der ältesten der überlieferten Kirchenordnungen, heißt es: „Ohne die Eucharistiefeier am Sonntag können wir nicht leben.“ Damit meint sie dreierlei: Erstens, wie wichtig die regelmäßige Zusammenkunft ist, um sich im Glauben zu stärken; zweitens, dass die Gläubigen im Sinne Jesu erkannt haben, dass sie am innigsten mit ihm verbunden sind, wenn sie miteinander das Brot brechen und die Communio, die Gemeinschaft mit ihm und untereinander, feiern; drittens, dass diese Feier für sie Leben bedeutet, entsprechend dem Wort Jesu Christi: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer von diesem Brot isst, wird leben in Ewigkeit“ (Joh 6,48.51). Dass es nicht immer die Eucharistiefeier sein muss und nicht auf hohe Zahlen ankommt, zeigt eine andere Zusage Jesu: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Das heißt doch: Wo auch nur wenige Christinnen und Christen miteinander beten, die Bibel lesen, darüber sprechen oder einfach überlegen, was in besonderen Situationen (z.B. Unfall, Krankheit, Familienfest, Jubiläum) im Sinne Jesu zu tun ist, da ist er mit seinem Geist präsent. Es hängt nicht alles von uns ab, von unseren tollen Ideen, langen Planungen und schwindenden Kräften. Er wird das Seine dazutun.

      Es gibt viele Formen und Anlässe des gemeinsamen Betens. Daneben ist das private Gebet wichtig. Es nährt das gemeinsame Beten. Wer nie allein betet, den zieht es auch nicht zur Gemeinschaft, in der man betet. Da das private Gebet sehr persönlich ist, ist es so vielfältig wie die Menschen. Drei Formen möchte ich nennen.

      Das Gebet ist sprechender Glaube. Der Glaube kommt vom Hören und drückt sich im Gebet aus, ist Antwort auf Gottes Wort. Das Gebet ist Rückruf auf Gottes Anruf. Die meisten von uns kennen fest formulierte Gebete, die sie entweder auswendig können oder die in einem Gebetbuch stehen. Sie greifen darauf zurück, wenn es darum geht, den Tag zu heiligen. Es macht durchaus Sinn, morgens, mittags und abends immer die gleichen Gebete zu sprechen, wiewohl Abwechslung je nach Jahreszeit guttut. Auch sollte der Sonntag gegenüber den Werktagen hervorgehoben werden, z.B. durch eine Kerze auf dem Tisch. Es ist hilfreich, sich einen kleinen Schatz persönlicher Gebete oder Gebetsworte anzueignen, damit man in Zeiten geistlicher Trockenheit, bei Müdigkeit und Krankheit davon zehren kann. Als ich Kaplan in Oberhausen-Sterkrade war, brachte ich monatlich am ersten Freitag zu etwa ein Dutzend Kranken die heilige Kommunion. Bei den ersten Touren meinte ich, am Ende der kleinen Feier selber ein Dankgebet formulieren zu müssen, doch merkte ich bald, wie gern die meisten Kranken von sich aus das Gebet sprachen: „Seele Christi, heilige mich! Leib Christi, mache selig mich …“ Es war ihnen vertraut.

      Nicht jede und jeder findet sich in formulierten Texten wieder, die zum Teil sehr alt sind. Jede Zeit hat ihre Sprache, und auch jeder Mensch spricht auf seine Art. Darum ist es gut, aus der augenblicklichen Lage heraus frei zu Gott zu sprechen, ihm zu danken, ihn zu bitten; es mögen stammelnde Worte sein, unvollkommene Sätze, Hauptsache, das Herz ist darin. Auch der Zöllner in der Gleichnisrede Jesu stand nur ganz hinten im Tempel, „schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,13).

      Seit 2010 besteht in Deutschland auch eine Orthodoxe Bischofskonferenz. Durch Zuwanderer aus dem Osten und durch Flüchtlinge aus dem Süden „ist die Orthodoxie in relativ kurzer Zeit zur drittgrößten Konfession in dem Land geworden, das bisher geradezu klassisch durch das Neben- und Miteinander katholischer und reformierter Kirchen geprägt wurde“3. Wer an einer Liturgie orthodoxer Christinnen und Christen teilnimmt, kann beobachten, wie die Gläubigen Ikonen küssen, sich bekreuzigen, sich mehrmals tief verbeugen, ja manchmal sich