Michael Rosenberger

Wie viel Tier darf's sein?


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und Interaktion. Über Essen und Trinken vermitteln wir einander verborgene Botschaften über unsere Werte und unseren Lebensstil. Im Essen und Trinken drücken wir uns selber aus: „Der Mensch ist, was er isst.“1Nur wenige Zitate werden so häufig verwendet und sind trotz ihrer Abnutzung so wahr. Die gesamte Identität des Menschen lässt sich an seinem Essen und Trinken erkennen. Denn im Essen und Trinken interagiert der Mensch – ganz gleich ob er allein oder in Gesellschaft ist – mit all jenen, zu denen er unmittelbar oder mittelbar Sozialbeziehungen besitzt – und das heißt mit allen Menschen. Die Ernährung ist Schlüsselmedium sozialer Beziehungen, Symbol für Identität und Differenz aller sich ernährenden Individuen.2

      Von daher ist es nur logisch, dass sich FleischesserInnen von VegetarierInnen und VeganerInnen und umgekehrt diese von FleischesserInnen in Frage gestellt, ja sogar angegriffen fühlen – allein dadurch, dass sie miteinander an einem Tisch essen. Fast zwangsläufig wird sich das Tischgespräch der im Raum stehenden Streitfrage zuwenden. Beide Gruppen fühlen sich genötigt, sich voreinander zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang stehen die vielen Witze über VegetarierInnen, von denen ich einige weniger aggressive zitieren möchte:

      – Aus dem Leben eines Vegetariers: „Kinder, kommt zu Tisch, das Essen wird welk!“

      – Wie nennt man einen dicken Vegetarier in Jugendsprache? – Biotonne.

      – Auch die größten Vegetarier beißen nicht gerne ins Gras!

      – Was ist der Unterschied zwischen einem Fleischesser und einem Vegetarier? Der Vegetarier stirbt gesünder! – Das Wort „Vegetarier“ kommt aus der Indianersprache und heißt „zu blöd zum Jagen“.

      Nicht wenige Spottverse greifen die enge Beziehung zwischen Ernährung und Sexualität auf. Einige der harmloseren seien ebenfalls erwähnt:

      – Vegetarier sind die, die Karotten lebendig und nackt ins Wasser werfen.

      – Dürfen Vegetarier Schmetterlinge im Bauch haben?

      – Platonische Liebe ist vegetarischer Sex!

      Witze sagen mehr über die aus, die sie erzählen, als über die, von denen sie erzählen. Es sagt viel, dass Witze rund um das Thema Fleischverzehr alle nur in eine Richtung gehen. Wer Witze macht, fühlt sich angegriffen oder wenigstens in Frage gestellt. Wer die Eigenheiten des anderen akzeptiert, braucht über sie keine Witze machen.

      Lebensmittel sind zu Lifestyle-Produkten geworden. Die methodisch leitende Perspektive dieses Buches wird daher die sein, was Fleischkonsum auf der einen und Fleischverzicht auf der anderen Seite über jene sagen, die dies als ihre Ernährungsoption wählen. Welche Identität geben sich Menschen, wenn sie eine Entscheidung für oder gegen tierische Produkte treffen? Denn letztlich geht es in Ethik und Religion immer um die Frage, wer man oder frau sein will.

      Eine Auseinandersetzung wie die zwischen FleischesserInnen und VegetarierInnen und VeganerInnen vollzieht sich nicht im luftleeren Raum. Viele der Argumente pro und contra sind ohne den aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhang gar nicht nachvollziehbar. Ernährung, einer der grundlegendsten natürlichen Vorgänge aller Lebewesen, vollzieht sich im Kontext der industrialisierten und globalisierten Moderne. Sechs typisen die Ernährung diese Epoche:3

      – Die Agrarrevolution hin zu immer zielgenauerer Züchtung, Maschinisierung und Chemisierung.

      – Das Entstehen von wenigen global agierenden Lebensmittelunternehmen.

      – Der Aufbau einer weltumspannenden Transportkette und Verkehrsinfrastruktur.

      – Die Vervielfältigung der Konservierungsmethoden, die den Transport über weite Strecken ermöglichen.

      – Die Kommerzialisierung: Praktisch alle Lebensmittel werden heute gekauft. Dies ist nur möglich durch die Privatisierung allen Landes, auch der früheren „Allmende“, also der allen Menschen einer Gemeinschaft miteinander gehörenden Flächen.

      – Die räumliche Trennung von Arbeiten und Wohnen, die die räumliche Trennung von Essen und Wohnen zur Folge hat. Mahlzeiten werden zunehmend außer Haus und unter Zeitdruck gegessen.

      Diese sechs Charakteristika umreißen gesellschaftliche Umbrüche, die kaum dramatischer gedacht werden können. Zwischen der Landwirtschaft vor 1800 und der nach 2000 bestehen fast keine Übereinstimmungen. Die technische und ökonomische Revolution hat alles von Grund auf verändert. Das gilt auch, ja ganz besonders für die Tierhaltung, die Verarbeitung und den Konsum tierischer Lebensmittel.

      Im Folgenden gehe ich in vier Schritten vor:

      Noch zu Teil I (Einleitung) gehört die Darlegung der wichtigsten Begrifflichkeiten und der verschiedenen Dimensionen veganen Lebens.

      In Teil II (Sehen) untersuche ich den Trend zu vegetarischer und veganer Ernährung, der in den letzten Jahren zu beobachten ist, und frage nach seinen Hintergründen und Ursachen.

      Teil III (Urteilen) ist einer vielschichtigen theologischethischen Diskussion über Vegetarismus, Veganismus und Fleischverzehr gewidmet.

      Teil IV (Handeln) schließlich richtet sein Augenmerk auf die praktischen Konsequenzen, die sich aus der ethischen Analyse ergeben, und endet mit einer hoffnungsvollen Vision.

      Der Begriff Vegetarismus ist – anders als die durch ihn bezeichnete Lebensform, die seit der Entstehung der Hochkulturen stets von kleineren oder größeren Gruppen gelebt wurde – erst im England der späten 1830er Jahre im Zusammenhang mit der Gründung vegetarischer Gesellschaften (vegetarian societies) erfunden worden.4 Um 1880 gelangt der Begriff nach Deutschland, wo er anfangs mit „Vegetarianer“ und später dann mit „Vegetarier“ übersetzt wird. Unter dem Sammelbegriff „Vegetarismus“ gilt es, verschiedene Formen des Verzichts auf Nahrungsmittel zu unterscheiden:5

      – Der Pescetarismus meint den Verzicht auf Fleisch, wobei Fisch, Eier und Milchprodukte gegessen werden. Streng genommen ist dies keine Form des Vegetarismus, sondern höchstens eine Vorform. Dennoch werden PescetarierInnen oft als VegetarierInnen betrachtet, sogar in Meinungsumfragen und Statistiken.

      – Der Ovo-Lacto-Vegetarismus bezeichnet den Verzicht auf Fleisch bei gleichzeitigem Konsum von Milch, Milchprodukten und Eiern. Diese Form des Vegetarismus lehnt also ausschließlich das direkte Töten geborener oder geschlüpfter Tiere zum Fleischverzehr ab.

      – Der Lacto-Vegetarismus geht einen Schritt weiter und verzichtet neben Fleisch auch auf Eier. Denn in Eiern könnte ja theoretisch der Keim eines Lebewesens liegen.

      – Der Veganismus plädiert mit der Tierrechtsbewegung für die Auflösung der gesamten Tierwirtschaft, die er als reine Ausbeutung der Tiere betrachtet, und verzichtet daher neben Fleisch und Eiern auch auf Milch und Milchprodukte. Darüber hinaus tragen VeganerInnen keine Kleidung, die tierische Materialien enthält, und verzichten auf Kosmetika, die mittels Tierversuchen getestet wurden.

      – Der Bio-Veganismus ist eine Variante des Veganismus und legt mehr als dieser Wert auf eine ökologische Erzeugung der pflanzlichen Produkte. Gegessen werden nur Pflanzen aus ökologischem Landbau. Allerdings steckt der vegane Ökolandbau noch in den Kinderschuhen, denn der klassische Ökolandbau verwendet tierischen Dünger. Die Frage darf als offen gelten, ob beide Kriterien – vegan und ökologisch – im strengen Sinne gemeinsam verwirklicht werden können.

      – Der Fructarismus oder Fruganismus als radikalste denkbare Form will über die Tiernutzung hinaus auch auf das Töten ganzer Pflanzen verzichten und konsumiert daher nur Früchte, die die Pflanzen ohnehin mit dem Ziel hervorbringen, dass sie von Tieren oder Menschen gegessen werden, um mit ihren Exkrementen den Samen zu verbreiten.

      – FlexitarierInnen hingegen sind Menschen, die zeitweise vegetarisch oder vegan leben, dann aber wieder Fleisch verzehren. Allerdings konsumieren sie relativ bewusst und gezielt Fleisch aus ökologischer und artgerechter Tierhaltung. Sie sind gleichsam „Teilzeit-VegetarierInnen“