Erzbischof von Westminster und Kardinal)
Seit Jahrzehnten bewegt und beschwert es mich, dass dem christlichen Volk zu großen Teilen eine Zusage und eine Berufung nicht wirklich bewusst werden kann, die zu seiner Identität, seinem Leben und seiner Würde unabdingbar gehört: nämlich sein Priestertum. Es handelt sich um das Priestertum des ganzen Volkes und um das Priestertum eines jeden und einer jeden Einzelnen darin. Die Bedeutung und Würde dieses Priestertums wird in der Schrift sogar durch das Wort »königlich« unterstrichen. Königliches Priestertum des ganzen christlichen Volkes und aller Einzelnen! Und so spärlich im Bewusstsein!
Der Schmerz richtet sich als Erstes weniger auf das »königlich«, denn es geht ja nicht darum, hoch hinauszuwollen. Er richtet sich zunächst und vor allem auf das wenig zur Geltung gebrachte Priestertum aller Glaubenden, das, wie schon gesagt, eher unbewusst und verdrängt erscheint, nur mit wenig Spielraum und Kompetenz in seiner Bedeutung wahrnehmbar. Das »königlich« ist freilich dann doch wieder insofern wichtig, als es deutlich auf die besondere und hohe, jedoch weithin wenig gewürdigte Würde aller Glaubenden aufmerksam macht.
Wie ist es möglich, dass eine solche Kostbarkeit vergessen oder verdrängt wird? Es ist nicht meine Absicht, dem ganzen geschichtlichen Werdegang nachzugehen. Offensichtlich ist, dass jedenfalls in der römisch-katholischen Kirche das Wort »Priester« seit langer Zeit besetzt, d.h. so gut wie ausschließlich in Gebrauch ist für jene, die durch entsprechende Ordination und Bestellung mit diesem Amt betraut sind. Auch dem Inhalt nach ist vieles vom gemeinsamen Priestertum des ganzen Volkes von da in den amtlichen Bereich der Kirche gewandert. Manches davon wird, so hoffe ich, im Lauf der Lektüre deutlich werden. Viel auch von der Würde aller hat sich dorthin bewegt. Dabei geht es keineswegs um äußere Würdezeichen und Insignien, sondern um das beglückende Wissen des Volkes Gottes, wer es in Christus ist und welchen Wert und welche Bedeutung es vor Gott und in der Welt und für die Welt hat. Nicht selten bestätigt ein Blick in die Gemeinden den Mangel eines solchen Sinn gebenden Bewusstseins.
Viele Christen freilich kommen dem entgegen und möchten gar nicht »mehr«, allzu oft, weil sie nicht wissen (durften?!), wer sie sind. Sie möchten einfach vieles abgeben und delegieren und möchten z.B. zur eigenen Entlastung Priester für sich bestellen oder bestellen lassen, damit diese tun, was den »normalen« Menschen und Christen zu überfordern scheint. Aber kann es denn wirklich sein, dass man das amtlich fördern oder gar für die eigene Position nützen will? Das Zweite Vatikanum hat das Priestertum des ganzen Volkes Gottes wieder bewusster zu machen und hervorzuheben begonnen. Wenn es eine Entfaltung des Offenbarungsund Lehrgutes in der Kirche gibt – und es gibt sie! –, dann ist auch selbstverständlich damit zu rechnen, dass es eine positive Geschichtlichkeit im Sinne einer Entfaltung des christlichen Bewusstseins und Selbstbewusstseins geben darf, und zwar ebenso gebieterisch und vorangetrieben durch den Geist Gottes wie aus der Sache selbst heraus. Und ebenso selbstverständlich gilt hier wie dort, dass der Geist der Zeit und das Lebensgefühl und der Bewusstseinsstand der Menschen dabei sehr wohl eine Rolle spielen. Die jüngsten Ereignisse haben uns gezeigt, wie sehr die Kirche auch angewiesen ist auf die Sensibilität und klärende Hilfe »von außen«. Es gibt ja in unserer Zeit ganz allgemein ein sehr breites und waches – freilich ebenfalls nicht selten versagendes – Bemühen um Wert, Würde und Recht von Völkern, Volksgruppen/Ethnien, Gemeinwesen bis hin zum einzelnen Menschen, das gegenseitige Anregung und Hilfe, Korrektur und Zusammenarbeit ermöglicht.
Gerade dieses letzte Konzil hat uns auf manches positive Zusammenspiel zwischen dem Leben der Kirche und dem Leben und den Bestrebungen der Menschen in ihrer profanen Alltagswelt achten gelehrt und hat dem mit großer Wachheit und Einfühlung positiv Rechnung getragen. Es hat »die Zeichen der Zeit« gesehen und verstanden und hat dies in Worten zum Ausdruck gebracht, die bis heute ihre Kraft nicht eingebüßt haben: Die Jünger Christi teilen »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art … Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet« und »erfährt … sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden« (GS 1). Der Kirche obliegt »allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten … Schritt für Schritt entdeckt (der Mensch) die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und weiß doch nicht, welche Ausrichtung er ihm geben soll« (GS 4).
Die Kirche steht also nicht nur Entwicklungen gegenüber, sie steht auch selbst, ebenfalls suchend nach Sinn und Ausrichtung, mitten in diesen Prozessen. Und sie weiß das. Sie hat sich im Zweiten Vatikanum, die gesellschaftlichen Veränderungen positiv aufgreifend, bewusst als »Volk Gottes« verstanden – mit einem biblischen Begriff, der das bis dahin bevorzugte biblische Bildwort »Leib Christi« weitestgehend ablöste. Es ist ja durchaus so, dass uns durch »Zeichen der Zeit« sehr oft erst die Augen geöffnet werden für das, was Gott uns heute jeweils durch die Schrift aktuell sagen will. »Volk Gottes« also werden wir genannt – nicht mehr im Sinne eines Volkes, das seiner Leitung (den Häuptern sozusagen) gegenübersteht, sondern als ein Volk, zu dem auch die Glieder der Leitung grundsätzlich gleich in gemeinsamer Berufung gehören. »Volk Gottes« wird der »Grundlagenbegriff der Kirche … Das gilt für alle in der Kirche und alle haben grundsätzlich gleichen Anteil an diesem Volk.« Doch indem sie so die Gesetze ihres eigenen Lebens neu entdeckt, hat die Kirche zwar die Deutlichkeit der Konzilsworte und ist doch wiederum suchend und »weiß doch nicht, welche Ausrichtung« sie nun diesem ihrem Leben »geben soll.« Sie musste und muss die ganze Mühe und Länge der Nachkonzilszeit durchwandern und vermag immer noch nicht in allen ihren Lagern Freude zu finden an der Aufwertung des Menschen- und des Christenwertes, die durch das Zweite Vatikanum geschehen ist. Sonst müsste nicht ein Buch wie dieses geschrieben werden als ein Plädoyer für diese Freude.9
Die Frage nun nach der Christenwürde, der ich auf diesen Seiten nachgehe, bezieht sich naturgemäß zunächst auf den Raum des Christentums, den Raum der christlichen Kirchen, speziell auf den der römisch-katholischen Kirche. Doch die Würde, die Menschen in einem bestimmten Bereich, z.B. hier in Religionsgemeinschaften, gewinnen, hat Bedeutung für die wachsende Gewinnung der Menschenwürde und ihre Sicherung überhaupt. Beide haben einander etwas zu geben. Die Menschenwürde nimmt die Christenwürde unter ihren Mantel und umgekehrt: Die Erkenntnis unserer Würde als Christen durch Jesus – unsere Jesus-Würde – macht uns zugleich sensibel für unsere Würde als Menschen und für die allzu oft »anonyme«, ja oft sogar entwürdigte Würde aller Menschen in und mit ihm.
»Eine neue Gesellschaft«, so das Zitat von Basil Hume, mit dem ich dieses Kapitel begonnen habe, »ist zu errichten für das Menschengeschlecht, dem eine neue Würde und eine neue Zukunft geschenkt wurde, als der Sohn Gottes in Maria Mensch wurde und für die Sünden seines Volkes starb«. Nicht weniger als eine »neue Gesellschaft« ist angemessen, dieses Geschenk an das Menschengeschlecht, diesem zugute, aufzunehmen! Eine neue Gesellschaft, mag sie auch »nicht größer (sein) als ein Senfkorn und doch so kraftvoll und wirksam wie ein Sauerteig«. Und daran soll man sie erkennen: In ihr »behauptet jeder Mensch seinen unantastbaren Wert und seine Würde als Individuum«.
Von ihrem Beginn an ist die Kirche diese »Neue Gesellschaft«. Und doch sind das Worte, die uns ein wenig den Atem nehmen. Ist es wirklich möglich, dass da von ihr, der Kirche, die Rede sein will? Das Christentum hat von allem Anfang an aus der Dynamik Jesu von Nazareth die Erkenntnis und die Praxis der Menschenwürde, des Wertes und Rechtes eines jeden Menschen mit vorangetrieben. Viel zu langsam und mit viel zu vielen grausamen Verirrungen, sagen wir heute im Rückblick. Jede einzelne dieser Verirrungen ist zu viel. Und doch hat das Christentum, streckenweise auch hinter sich selbst zurückbleibend, Erkenntnis und Praxis der Menschenwürde mit vorangebracht. Ich kann das in diesem Rahmen nicht genauer belegen. Es wäre ein eigenes Thema. Die für uns jetzt wichtigste Frage ist, ob, wie und wie bald die Kirche sich den gegenwärtigen Herausforderungen, was Wert und Würde des Menschen betrifft, gewachsen zeigt. Wir haben es jüngst erlebt, wie sehr in ihr und durch sie auch die Würde von Menschen verletzt werden kann.
Wenn einfache Christen, die ja immer noch und nicht selten unter ihrem Wert und ihrer Würde gesehen und behandelt werden, den »Geist der Verzagtheit« (2 Tim 1,7) überwinden und ihren unantastbaren Wert und ihre Würde, als Individuum und in Gemeinschaft, bewusster und