Martín Camenisch

" Hoch Geachter Her Verhörrichter …"


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beziehungsweise Polizeisystems. Im Hinblick auf die Bedeutung der im Kapitel Kultur unterstrichenen, innerinstitutionellen Dichotomisierung (Leitungsinstanzen/Gesetzgeber und rangniedrige Polizeibeamten) spielt diese Komponente für die vorliegende Untersuchung eine erhebliche Rolle.

      Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die umfassende Frage nach der Verdichtung und Wirkungsentfaltung von formellen und informellen Normen. Damit verbunden spielt die Frage nach der Systemstruktur eine überaus zentrale Rolle. Strukturen ergeben sich im Gegensatz zu den temporär-singulären Kommunikationen als Resultat längerfristiger (eingespielter) Operations- beziehungsweise Kommunikationsprozesse. Sie haben für Luhmann also nur insofern «Realitätswert», als sie «zur Verknüpfung kommunikativer Ereignisse verwendet» werden.50 Analog dazu verweist er auch bei den Normen darauf, dass diese «explizit oder implizit […] zitiert werden» müssen, um Gültigkeit zu haben. Auch der «Realitätswert» von «Erwartungen» schliesslich manifestiert sich für Luhmann nur insofern, als «sie in Kommunikationen zum Ausdruck kommen». Er spricht daraus folgend von einer «enorme[n] und primäre[n] Anpassungsfähigkeit des Systems im schlichten Vergessen, in der Nichtwiederverwendung von strukturgebenden Erwartungen». Wenn man also Strukturveränderungen «evolutionistisch» begreifen wolle, so Luhmann, müsse man sich davon abwenden, dass Strukturen etwas «Festes» seien:51 Strukturen würden «nicht abstrakt, nicht unabhängig von der Zeit» existieren, sondern sie würden «verwendet» oder «nicht verwendet». Entweder würden sie «durch Wiederholung in verschiedenen Situationen einen Sinnreichtum [konfirmieren]», oder aber sie würden «kondensieren» – wenn nicht gar vergessen werden. Übertragen auf das Polizeiwesen kann dies jegliche Art von formellen und informellen Normen betreffen. Bezeichnenderweise unterscheidet Luhmann gerade in der frühen Organisationstheorie explizit zwischen formaler und informaler Organisation. Diesen Sachverhalt aufgreifend fasst Drepper zusammen, dass die «Strukturqualität» sozialer Systeme «gradualisierbar» sei.52 Es gebe «schwach, mittel und stark formalisierte Sozialsysteme». Er unterstreicht, die «frühen Luhmannschen Überlegungen zu formaler Organisation» aufgreifend, im Weiteren die Tatsache, dass sich in einer Organisation insbesondere auch «das eher personen- und kleingruppenbezogene Agieren in informalen Ordnungen» strukturkonstitutiv und -erhaltend auswirke. Mitunter habe diese «informale oder auch spontane Kommunikation» für die Entstehung von Organisationsstrukturen einen normativ gesehen viel verdichtenderen und weitreichenderen Charakter «als die formale Ordnung». Für die Untersuchung der Kommunikationsflüsse innerhalb des Bündner Landjägerkorps und die damit verbundene Formation, Veränderung und Vergänglichkeit von Systemstrukturen jedenfalls scheinen gerade die letztgenannten Komponenten von besonderer Bedeutung zu sein. Eine wichtige Rolle spielt dabei die erwähnte Kontingenz und damit verbunden die Bedeutung der Beobachtung weiterer Ordnung. Entscheidend dabei ist nämlich, dass Kommunikationen (gerade wenn sie aufgrund von schriftlichen Rapporten und Weisungen rekonstruiert werden müssen) ständig von Färbungen, Weglassungen und Interpretationen beeinflusst werden beziehungsweise wurden.53

      Angesichts des häufigen Vergleichs des Polizeikorps mit einem Apparat zur Durchsetzung der staatlichen Herrschaftsgewalt54 erweist es sich im Kontext der Bedeutung von Kommunikationen als fruchtbar, wenn ein gesonderter Blick auf den Aspekt der Macht geworfen wird. Gerade in der Diskurstheorie Foucaults tritt dieser Aspekt (im Sinne einer diskursiv entstandenen Struktur) an besonders prominenter Stelle auf. Der französische Philosoph spricht im Zusammenhang mit Diskursen «von einem diskontinuierlichen Auftauchen und Verschwinden kontingenter Formationen».55 Mit diesem Ansatz will er herausschälen, «welche Aussagen bzw. diskursiven Ereignisse sich jeweils zu einem Diskursfeld bündeln l[ie]ssen». Dabei bildet laut Kneer, der den Bezug zur Systemtheorie herstellt, das «diskursive Feld […] ein autonomes System, das auf bestimmte, strukturierte Weise Objekte konstituier[t], Äußerungstypen hervorbring[t], Begriffe situier[t] und Themen verwende[t]».56 Foucault unterscheidet zwischen «Äusserungen» und «Aussagen» und verweist auf die Tatsache, dass Letztgenannte im Gegensatz zu Erstgenannten wiederholbar seien.57 Indem nun Foucault, so Kneer, behaupte, «dass die Identität der Aussage durch strukturelle Zusammenhänge konstituiert» werde, 58 ergebe sich die «Konsequenz, dass Strukturen nicht als deskriptive Regelmäßigkeit, wie Foucault behaupt[e], sondern als beherrschende Wirkkräfte konzipiert w[ü]rden».59 Tatsächlich nimmt der Begriff der Macht in Foucaults Diskursanalyse eine zentrale Stellung ein. Greifbar wird er spätestens in seinem Werk «Wille zum Wissen»60. Im staatlichen Apparat samt den damit verbundenen Institutionen und Gesetzeswerken erkennt Foucault eine Kondensation von Machtverhältnissen, verweist jedoch auf die darin nicht enthaltenen sonstigen zahlreichen Orte der Machtausübung.61 Damit möchte er zwar nicht behaupten, «dass der Staat nicht wichtig sei», fügt jedoch umgehend hinzu, dass die Analyse der «Machtverhältnisse» sich nicht nur auf den Staat beschränken dürfe. Erstens nämlich sei der Staat «mit seiner Allgegenwart und mit seinen Apparaten […] recht weit davon entfernt […], das gesamte reale Feld der Machtverhältnisse abzudecken», und zweitens könne derselbe Staat «nur auf der Basis von schon zuvor existierenden Machtbeziehungen funktionieren». Ganz allgemein indes geht Foucault davon aus, «dass alle Handlungen innerhalb eines Machtnetzes» erfolgen würden und insofern «niemals in einem machtfreien Raum agiert» werde.62 Für dieses Verdikt der Omnipräsenz von Macht verweist Kabobel unter anderem auf Foucaults Feststellung, dass sich Macht «in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeug[e]».63 Foucault interessiert sich daher nicht in erster Linie für diejenigen Bereiche, in denen Macht ganz offensichtlich eine zentrale Rolle spielt (dazu gehört auch das Polizeiwesen), sondern gerade umgekehrt für die Formation von Macht in den von der Forschung noch wenig fokussierten Handlungszusammenhängen. Obwohl diese radikale Sichtweise im Hinblick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand durchaus problematische Aspekte beinhaltet, 64 muss auch auf die gewinnbringenden Eigenschaften der foucaultschen Diskurstheorie verwiesen werden. Dies etwa, wenn nach den diskursiven Praktiken der staatlichen Herrschaftsmächte – wenn von solchen Mächten, was noch zu klären sein wird, im jungen Kanton Graubünden überhaupt gesprochen werden kann – oder dem strukturbildenden Diskurs der Polizeibeamten hinsichtlich der staatlich verfolgten Randgruppierungen gefragt wird. Für innerorganisatorische Strukturelemente jedoch erscheint die Herausschälung von durch die Diskursanalyse gewonnenen Machtformationen nur in Teilen als angebracht, da das Polizeiwesen organisatorisch betrachtet auf Hierarchien und insofern auf nackten Machtgefällen basiert. Zu fragen wäre allenfalls, ob auch Machtformationen von unten aufgedeckt werden könnten – also, ob in der diskursiven Tätigkeit der rangniedrigen Polizeibeamten verdeckte Machtansprüche gegen oben herausgeschält werden könnten und ob diese sich dann auch als erfolgreich und strukturkonstituierend bezeichnen liessen. Es ist jedenfalls wenig ertragreich, die Diskurstheorie für die Herausschälung von Normen rein organisatorischer Art heranzuziehen – etwa zur Frage, welche Regeln des Umgangs mit Vaganten die Landjäger befolgen sollten –, denn entsprechende Normen waren kaum von verdeckten Machteinwirkungen beeinflusst.

      Davon abgesehen bedarf der Begriff der Macht für die vorliegende Untersuchung ohnehin noch einer genaueren Erläuterung. Obwohl er bei Foucault zentral ist, hat der französische Diskursanalytiker keine eigentliche Machttheorie im Sinn einer kommunikativen Konstitution von Macht geliefert.65 Luhmanns Machttheorie ist diesbezüglich aussagekräftiger und insbesondere im Hinblick auf zu untersuchende Interaktionsformen der Polizeibeamten bedeutsam. Der deutsche Soziologe verweist auf die Bedeutung von «Unsicherheit» als «Machtquelle»: Macht könne als solche gespürt oder empfunden werden, wenn eine Person die Möglichkeit besitze, sie als «weitere Quelle von Unsicherheit» zu (miss-)brauchen.66 Mit diesem Ansatz möchte sich Luhmann, wie er gleich selbst festhält, von Machtbegriffen distanzieren, welche mit der «Referenz auf Kausalität oder auch Absichten (Willen etc.) des Machthabers arbeiten, so als ob auf diese Weise eine vorliegende Realität bezeichnet werden könnte».67 Zu einem «stärkeren» Machtbegriff gelange man, wenn das «Verhalten anderer» einbezogen würde. Dies könne «über Sanktionen geschehen», wobei die «Einschränkung auf Bewirkung des Verhaltens anderer […] einen Zugewinn an Macht» bedeutet.68 Bei dieser Machtform, die Luhmann als «Einfluss»