Kirche – »das Schiff im Sturm«
MEDARD KEHL UND STEPHAN CH. KESSLER
Anregungen zur priesterlichen Lebenspraxis
Zwölf Punkte der Aufmerksamkeit
Kriterien des priesterlichen Dienstes
Zum Weiterlesen: Thematische Literaturauswahl
Ein Wort zuvor
Gemäß antiker Spruchweisheit haben Bücher ihre Schicksale: Manchmal besitzen sie schon eine kleine Geschichte, noch bevor der erste Buchstabe geschrieben ist.1 Frühstücksgespräche in dem von Papst Benedikt XVI. ausgerufenen Jahr des Priesters (2009–2010) waren die Initialzündung für das Entstehen dieses Bandes. Beide Autoren leben und arbeiten in Frankfurt Sankt Georgen an einem theologischen Lernort für Laien und Priester. Deshalb kann die Situation der kirchlichen Dienste und Ämter bereits bei einer morgendlichen Konversation auf natürliche Weise Thema werden. Darüber hinaus verbindet beide Autoren die Mitgliedschaft in einem Orden, dessen Dreh- und Angelpunkt die Seelsorge und die qualifizierte Ausbildung dazu ist. »Ayudar las almas – den Menschen helfen« lautet das Ideal, das Ignatius von Loyola (1491–1556) der Gesellschaft Jesu ins Stammbuch geschrieben hat. Aus dieser seelsorglichen Motivation betreibt der Orden seit den Tagen seiner Gründung theologische Forschung und übernimmt Verantwortung in der Ausbildung von Frauen und Männern in der Seelsorge. Im deutschen Sprachraum befinden sich die jesuitischen Zentren überdiözesaner Weltpriester- und Seelsorgeausbildung in Frankfurt, Innsbruck und Rom.2 Tradition und Erfahrung, verbunden mit der Reflexion unserer Praxis der Ausbildung von Seelsorgern haben uns beide veranlasst, ein Plädoyer für das Priesterliche in der Kirche vorzulegen. Priester werden verehrt und verachtet. In der Kirche gelten sie als Männer Gottes, außerhalb werden sie als Relikte einer untergehenden Welt wahrgenommen. Das priesterliche Lebensideal wird von inneren und äußeren Krisen erschüttert. Die notwendigen Veränderungen der Seelsorge bringen die Kirchenleitungen in Versuchung, das geistliche Amt durch Reduktion auf Verwaltung und Strukturen zu banalisieren. Auf der anderen Seite ist gleichzeitig eine theologisch nicht immer gedeckte Fixierung auf das Weiheamt zu beobachten.
Dieses Buch möchte die Wirklichkeit des Priesterlichen nüchtern in den Blick nehmen. Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen sollen realistische Entwicklungslinien aufgezeigt werden, wie die Kirche als Ganze priesterlicher werden kann bzw. muss. Denn priesterlicher Dienst ist kein Standesprivileg, sondern eine wesentliche Dimension der Kirche. Dieser Dienst wird in Gemeinsamkeit mit allen Getauften und in gleichzeitiger Unterschiedenheit in Bezug auf den spezifischen Auftrag ausgeübt. In einer ersten Annäherung sollen Möglichkeiten eines Profils des Priestertums heute aufgezeigt werden. Im zweiten Teil wird die sich verändernde Rolle des priesterlichen Dienstes im Konzert mit den pastoralen Verantwortungsträgern und im Kontext der größeren pastoralen Räume dargestellt.
Die Fortsetzung der Frühstücksgespräche in schriftlicher Form möchte anstoßen und zum kreativen Umgang mit der Verheißung des Glaubens ermutigen, dass Christus sein »ganzes Volk … mit der Würde seines königlichen Priestertums« ausgezeichnet hat (Präfation der Chrisammesse). Es geht uns darum aufzuzeigen, wie die Kirche als Ganze priesterlich werden muss, damit »geistliche Menschen« als »menschliche Geistliche«3 überzeugender in ihr leben und ihren Dienst tun können.
Frankfurt am Main, Sankt Georgen, im Frühjahr 2010
Medard Kehl SJ | Stephan Ch. Kessler SJ |
1. Sich vor Augen stellen, was ist – eine Betrachtung des Priesterlichen
Da gingen ihnen die Augen auf (Lk 24,31)
In den Geistlichen Übungen des Ignatius kann man es lernen: betrachten; ohne vorschnelle Bewertung, möglichst vorurteilsfrei einfach schauen, um klarer zu sehen. Eine erste Annäherung zur Thematik »Priesterlich werden« versucht, nüchtern einen Blick auf die Wirklichkeit des Priesterlichen zu werfen. Dabei geht es nicht um Ekklesiologie, Soziologie oder eine andere Theorie. Dazu liegen profunde Veröffentlichungen vor, nicht zuletzt angeregt durch das Priesterjahr (vgl. die Auswahl im Literaturverzeichnis). Nicht selten jedoch ist der Grundton vieler Bücher erhaben und oft an einem enthobenen Ideal orientiert. Auch fehlt es nicht – vor allem innerkirchlich – an Diskursen und Disputen zu Fragen der Dienste und Ämter in ihrem jeweiligen Zueinander unter den gegenwärtigen Herausforderungen. Irgendwie kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die Sache des Priesterlichen selbst ist nicht wirklich klar.
Es soll an dieser Stelle auch keine umfassende Analyse des Priesterlichen geboten werden, sondern eine Bestandsaufnahme aus einer geistlichen und theologischpraktischen Perspektive. Es geht nur darum, zu schauen und das zu sehen, was sich zeigt. Denn wer genau hinschaut, soll bei einer geistlichen Betrachtung nach Ignatius mit innerlichem Gespür und allen Sinnen die ganze Wirklichkeit in den Blick nehmen, nicht nur die passenden Aspekte. Die einzelnen Schritte lauten in den Exerzitien: sich vor Augen stellen, sehen und erwägen.4 Da bei dieser offenen Art der Vergegenwärtigung immer die Gefahr besteht, gerade bei den kritischen und schwierigen Punkten hängenzubleiben, geben die Exerzitien psychologisch klug die Ordnung der betrachtenden Analyse vor: Damit der Betrachtende sich nicht auf die Probleme fixiert, soll zuerst auf die positiven Aspekte geschaut werden. Der so Übende soll sich darum bemühen, auf einem Fundament der Wertschätzung an erster Stelle dankbar zu werden. Erst auf dieser Grundlage können in einem zweiten Anlauf umso realistischer Probleme, Hindernisse und Fragen in den Blick genommen werden, wobei auch Ohnmacht und Scheitern zugelassen werden können. Diese einfache Art der Betrachtung kann die Blickrichtung ändern, Fixierungen lösen und ungeahnte Perspektiven eröffnen. Diese Erfahrung hat auch Antoine de Saint-Exupéry (1900– 1944) gemacht: »Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.«
Positive Bestandsaufnahme – nur einer ist Priester
Den Dank vervielfachen (2 Kor 4,15)
Wenn priesterliche Berufung in der Kirche nicht als Stein des Anstoßes, sondern als positive Gabe, als Geschenk wahrgenommen werden soll, muss zuvor unmissverständlich herausgestellt werden: Das Geschenk schlechthin ist Jesus Christus. Er allein ist im ursprünglichen Sinn Priester und nur er. Deswegen kennt die Kirche des Neuen Bundes keine Priester im herkömmlichen Sinn. Es gibt keinen anderen Mittler zwischen Gott und den Menschen als den Menschen Christus Jesus (1 Tim 2,5). In diesem Sinn hat alles Priesterliche im christlichen Kontext nur Sinn und Bestand, wenn es am Priestertum Jesu teilhat. Der Hebräerbrief hält für Jesus den Titel eines Hohenpriesters bereit (Hebr. 2,17; griech.: archihiereus, lat.: pontifex), füllt diesen religionsgeschichtlich kultbezogenen Begriff jedoch neu: Das priesterliche Tun Jesu, der Kult des Neuen Bundes ist seine Lebenshingabe an Gott. Im Geheimnis von Tod und Auferstehung ist Jesus der Hohepriester. Das österliche Geschehen versöhnt die Welt definitiv und ein für alle Mal mit Gott. Das Paschamysterium ist Quelle und Gipfelpunkt des Priestertums. Deswegen ist priesterliche Existenz immer österlich und deswegen bedeutet der Prozess, priesterlich zu werden, für die Kirche, einen österlichen Weg zu beschreiten. Im Kontext der heilsgeschichtlichen Ordnung bleibt das Christusereignis