stark sich das populäre Geschichtsbild und die universitäre Forschung auseinandergelebt hatten, zeigte sich 1986 beim Jubiläum der Schlacht bei Sempach, dann 1989, im Umfeld des Mauerfalls und der Armeeabschaffungsinitiative, und 1991 bei der Jubiläumsfeier «700 Jahre Eidgenossenschaft», die in ihrer ursprünglich geplanten Form scheiterte. 1995 wurde die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg gar zum Thema internationaler Polemiken. Vor allem Amerikaner formulierten Anschuldigungen über die schweizerische Kollaboration mit Nazideutschland, die zum Teil aus der Luft gegriffen waren und zum Teil auf solider Quellengrundlage beruhten. Dazu gehörte kaum etwas, was den Fachleuten nicht bekannt gewesen wäre. Aber weite Kreise, nicht zuletzt viele Angehörige der Aktivdienstgeneration, die damals Militärdienst geleistet hatten, empfanden die Weltkriegsdebatte als Demütigung der Schweiz und ihrer Leistungen im Weltkrieg. Der Bundesrat setzte erneut eine Kommission zur «historischen Wahrheitsfindung» ein, die von Jean-François Bergier geleitet wurde. Sie legte 2002/03 in zahlreichen Einzeluntersuchungen und einem Schlussbericht ihre Einschätzung vor, wie sich die Schweiz, namentlich ihre Unternehmen und der Finanzplatz, verhalten hatte. Die Konfrontation mit dem Forschungsstand führte zu heftigen öffentlichen Debatten: «Junghistoriker» erschienen den einen als besserwisserische «Nestbeschmutzer» und marxistische «Schweizhasser», während die anderen forderten, endlich mit den Geschichtsmythen aufzuräumen.48
Geschickt nutzten vor allem die Schweizerische Volkspartei (SVP) und ihre Schwesterorganisation, die Aktion für eine neutrale und unabhängige Schweiz (AUNS), das vergangenheitspolitische Thema, das viele als Frage der nationalen Ehre ansahen. Ihr Anführer Christoph Blocher ordnete die Auseinandersetzung um Entschädigungszahlungen und deren Gegenstand in den jahrhundertelangen Widerstand gegen Aggressoren und in diesem Fall «Erpresser» aus dem Ausland ein. Diese Argumentation fügte sich gut in das rhetorische Abwehrdispositiv, das die Nationalkonservativen bereits gegenüber dem Europäischen Wirtschaftsraum (1992) und gegenüber der Europäischen Union pflegten, in der sie eine zentralistische und imperialistische Grossmacht erblickten. Diese Überzeugung ergab sich nicht aus neuen historischen Publikationen oder eigenständigen Forschungen. Im Gegenteil, die Nationalkonservativen wiederholten bloss, aber mit anhaltendem Erfolg die Kernelemente des Geschichtsbilds, wie es im Kalten Krieg für die politischen Parteien bis weit in die Linke hinein und für grosse Teile der Bevölkerung Gültigkeit gehabt hatte. Einleitend zu den hier folgenden Kapiteln wird diese Position jeweils durch ein Zitat der beiden SVP-Bundesräte Christoph Blocher oder Ueli Maurer illustriert. Es bildet den Ausgangspunkt zu den folgenden Überlegungen, ob und wie weit die schweizerischen Heldengeschichten der historischen Überlieferung entsprechen und angemessene Modelle für die Zukunft liefern.
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