Thomas Maissen

Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt


Скачать книгу

das Ancien Régime als einer Zeit der konfessionellen Konflikte, der aristokratischen Willkür und politischer Fremdbestimmung. Der Bundesstaat erschien in diesen Fortschrittsnarrativen einerseits als Verwirklichung aufklärerisch-liberaler Postulate, andererseits aber auch als Rückkehr zur Anerkennung und zum Respekt, den die mittelalterlichen Eidgenossen erfahren hatten. Diese Geschichtsvision wirkte nicht zuletzt über Popularisierungen wie jene von Johannes Sutz, Schweizer Geschichte für das Volk erzählt (1899), oder Emil Frey, Die Kriegstaten der Schweizer dem Volk erzählt (1904). Freys Schilderung, «wie die wetterharten Bauern und Hirten des schweizerischen Berglandes um ihrer Freiheit willen zum Schwert greifen», war programmatisch für ein Genre, das in der mehrbändigen Schweizer Kriegsgeschichte (1915–1923) ihren Höhepunkte erlebte: Auf Anregung des Generalstabschefs der Armee stellten führende Historiker die Entwicklung von den Helvetiern bis 1914 aus der militärischen Perspektive dar.36

      Das gemässigt freisinnige Geschichtskonzept, insbesondere Oechslis Fixierung von 1291 als Gründungsdatum, integrierten an zentraler, staatsbegründender Stelle die katholisch-konservativen Verlierer des Sonderbundskriegs, also namentlich die «Urschweiz». Die Sieger von 1847/48 erkannten ihnen diesen Ehrentitel zu und orchestrierten damit den 1891 erfolgten Eintritt der Katholisch-Konservativen in den Bundesrat. Ebenfalls im historischen Umfeld zu verstehen ist die Geschichte der schweizerischen Neutralität des Zürcher Staatsarchivars Paul Schweizer. Er reagierte damit 1895 auf die Wohlgemuth-Krise, einen Spionagefall, der Bismarck zu Ausfällen gegen die Schweiz und ihre aussenpolitische Maxime veranlasste. Im Bemühen, sie auch historisch zu legitimieren, deutete Schweizer nach intensiven Archivrecherchen die frühesten Belege etwa für das «Stillesitzen» als eidgenössische Form der Neutralität.

      Die liberale Geschichtsvision erlebte Fortsetzungen und Aktualisierungen etwa durch den Zürcher Professor Ernst Gagliardi, wogegen die konkurrierenden politischen Lager sie kaum in Frage stellten. Die katholisch-konservativen Historiker mochten keine alternative Perspektive auf die Nationalgeschichte entwerfen. Autoren der mit Geschichtslehrstühlen gut ausgestatteten Universität Freiburg, namentlich Joseph Hürbin (Handbuch der Schweizer Geschichte, 1900/06) oder Gaston Castella (Histoire de la Suisse, 1928), setzten nur bei konfessionellen Themen andere Duftnoten als ihre reformierten Vorläufer um Dierauer. Die meisten katholischen Historiker blieben wie der Nidwaldner Robert Durrer in ihrem föderalistisch-konfessionellen Lagerdenken auf Figuren wie Bruder Klaus und Carlo Borromeo ausgerichtet. Eine Ausnahme war allein die reaktionär-ständestaatliche Geschichtsvision des Freiburger Patriziers Gonzague de Reynold (La démocratie et la Suisse, 1929). Auf der Linken schrieb der Sozialdemokrat Robert Grimm seine Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen nicht auf der Grundlage eigener Forschungen, sondern 1920 während seiner Haft nach dem Landesstreik. Er stützte sich vor allem auf Dändliker und Dierauer, doch betonte Grimm gegen die harmonisierende Sicht der Nationalgeschichte die vielen, oft gewaltsamen Konflikte als Motor der emanzipatorischen Entwicklung. Dazu zählte der Kampf der «Bauern» um 1300 gegen den «Adel», worin Grimm die liberale und konservative Narration übernahm. Auf eigenen Forschungen beruhte die Geschichte der Schweiz (1941) von Grimms Parteigenossen, dem Historiker und Nationalrat Valentin Gitermann. Es war ein aussergewöhnlicher Blick «ohne beschönigende Retouchen» auf die Nation, insofern der jüdische Flüchtling erst fünfjährig aus der Ukraine in die Schweiz gelangt war. Sein ausgewogenes Werk erntete neben Anerkennung auch scharfe Kritik, weil es nicht in der schweizerischen Geschichtsforschung wurzle und er die bündische Ausbildung des christlichen Volksstaats im Mittelalter nur eilig behandelt habe.37 Gitermanns materialistischer Ansatz, der grossen Persönlichkeiten sowie der Militär- und Geistesgeschichte wenig Raum widmete, galt als linke Methode. Das erklärt die Randstellung, welche die Wirtschafts- und Sozialgeschichte beibehielt, obwohl durchaus liberale Historiker wie William Rappard, Eduard Fueter oder Hans Nabholz in diesen Bereichen schweizergeschichtliche Beiträge leisteten. Sie verfassten allerdings keine Gesamtdarstellungen, und Erstere beide schrieben mit einem klaren Fokus nicht auf die mittelalterlichen Anfänge, sondern auf den Bundesstaat seit 1848.

      Die Westschweizer schauten zwar gelegentlich mit föderalistischem Misstrauen, aber nach den Verwerfungen, die es im Ersten Weltkrieg zwischen den Sprachgruppen gegeben hatte, insgesamt sehr wohlwollend auf die Entwicklung vom Staatenbund zum und im liberalen Bundesstaat, der ihre Autonomie garantierte. Im Unterschied zu den Deutschschweizern beschrieben die Vertreter der Minderheit eher die Ausbildung staatlicher Strukturen in ihrem internationalen Umfeld denn die Entfaltung einer Nation aus sich selbst heraus. Von einem französischen «Joch» nach 1798 sprach aber auch der Journalist William Martin in seiner Histoire de la Suisse: Essai sur la formation d’une confédération d’états, die erstmals 1928 erschien und danach sehr oft neu aufgelegt wurde, für die neuere Zeit mit Ergänzungen von Pierre Béguin. Ähnliches gilt für die vielfach nachgedruckte Histoire de la Suisse (1944) von Charles Gilliard. Der liberal-reformierten, aber auch einer konservativ bernischen Tradition verpflichtet war die «Viermännergeschichte» von Hans Nabholz, Leonhard von Muralt, Richard Feller und Edgar Bonjour, womit erstmals Spezialisten die unterschiedlichen Epochenbeiträge schrieben. Nabholz war von diesen Autoren methodisch am differenziertesten und akzeptierte zwar die sagenhafte Überlieferung als «Verkörperung der Freiheitsidee», doch war ihm klar: «Unsere Darstellung von der Entstehung der Eidgenossenschaft weicht stark von dem Bilde ab, das jeder Schweizer von diesen Vorgängen lebendig vor Augen hat und das sich von Generation zu Generation weitervererbt.»38

      Die Formulierungen zeigten bereits die Ausrichtung auch der Historikerzunft auf die Geistige Landesverteidigung der 1930er-Jahre. Die Diskrepanz zwischen dem Forschungsstand und den volkstümlichen Vorstellungen von der Schweizergeschichte war ihr bewusst. Doch der Appell an Freiheit und Opferbereitschaft hatte nichts Theoretisches, wenn ein völkisches Grossdeutschland im Norden drohte, von Süden der faschistische Irredentismus, der alle Italienischsprachigen in einem Staat vereinen wollte. Die Rede vom «Sonderfall» erfüllte nun eine existentielle Aufgabe. Sie legitimierte einen Staat, dessen Gemeinschaft nicht Blut und Sprache definierten, sondern Geschichte und, in Ernest Renans Worten, das alltägliche Plebiszit der Bürger. Die Einheit in der Vielfalt war in der Argumentation des federführenden Bundesrats Philipp Etter das Wichtigste: Viersprachigkeit, kulturelle Mittlerrolle, föderalistische Bundesstruktur, Gemeindeautonomie und Menschenwürde in einem christlichen Sinn. Gegenüber diesem Erbe der Alten Eidgenossenschaft traten die Errungenschaften von 1848 zurück: parlamentarische Demokratie, individuelle Freiheit und Gleichheit, eine liberale Wirtschaftsordnung. Definiert wurde der Sonderfall aussenpolitisch damit nicht nur in Abgrenzung zu den rechten und linken Totalitarismen, sondern auch zu den demokratisch legitimierten Volksfrontregimes in Frankreich und Spanien und den angloamerikanischen Modellen.

      In gewisser Hinsicht hatte die schweizerische Historikerzunft Glück. Einer der Ihren, der Luzerner Katholik Karl Meyer, glaubte selbst an das, was er mit der Autorität eines Professors in Zürich verkündete: Die Befreiungserzählung einschliesslich der Tellensage war nicht Legende, sondern wahre Geschichte, und der einstige Widerstand genossenschaftlicher Kommunen gegen den fremden Adel gab das Modell für die Verteidigung des demokratischen Sonderfalls in der gegenwärtigen Bedrohung ab.39 Ähnlich erklärte der erwähnte Robert Durrer 1934 Winkelried gegen die «Pseudokritik des 19. Jahrh.» wieder zur historischen Figur.40 Dieser Rückschritt hinter Kopps hundert Jahre zuvor etablierte Quellenkritik provozierte klaren Widerspruch von fachkundigen Kollegen. Allein, Meyers Darlegungen fügten sich gut in die politische und gesellschaftliche Erwartungshaltung, dass die Vergangenheit Identität und Kontinuität stiften solle. 1941 beging der Bundesrat in diesem Geist zusammen mit General Guisan den 650. Geburtstag der Schweiz im kurz zuvor eingeweihten Schwyzer Bundesbriefarchiv, um in den ernsten Stunden die Verpflichtung gegenüber den Ahnen und ihr Vorbild zivil und religiös zu unterstreichen.

      Die biografische Erfahrung der Kriegsjahre und vor allem des militärischen Aktivdiensts prägte die grosse Zahl von schweizergeschichtlichen Texten, die nach 1945 verfasst wurden und sich oft an ein weiteres Publikum wandten, so die Schriften von Georg Thürer, eines Schülers von Karl Meyer (Bundesspiegel. Werdegang und Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1948). Es fällt auf, dass viele der Autoren nach oder neben ihrer historiografischen Tätigkeit politische Ämter übernahmen und sich somit in doppelter Hinsicht vaterländisch-gouvernemental betätigten. Gottfried Guggenbühl (Geschichte der Schweizer Eidgenossenschaft, 1947/48)