Thomas Maissen

Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt


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übereinstimmen.4 Der einleitende historiografische Überblick ordnet die wichtigsten Autoren in die Entstehung und den Wandel von nationalen Geschichtsbildern ein, doch lassen sich die Kapitel auch einzeln lesen. Gelegentliche Wiederholungen sind auch deswegen unvermeidlich, weil bestimmte Werke oder Deutungen in unterschiedlichen Zusammenhängen wichtig waren.

      Diese Ausführungen widme ich unseren Kindern Lucas, Valentin, Patricia und Anna zum Trost dafür, dass ich hiermit den Zahlencode der Schlösser preisgebe, mit dem sie ihre Fahrräder sichern: 1291. Diese Jahreszahl symbolisiert den echten, aber unaufgeregten Patriotismus von Auslandschweizern ebenso wie ihren debattierfreudigen, aber nicht verbissenen Widerspruchsgeist in vielen Diskussionen, die sie nicht nur zu historischen Themen mit ihrem Vater führen, dem sie zwar glauben, aber auch etwas übelnehmen, dass es Tell und Rütlischwur nie gegeben hat. Erlebt und erlesen haben sie beides dank ihren deutschen Lehrern in Heidelberg und einem tschechischen Regisseur in Zürich, die ihnen das facettenreiche Drama des deutschen Schriftstellers Friedrich Schiller nicht in nationaler Verengung, sondern als universales Erbe präsentierten. Dazu fügt sich gut der Dank an meine Frau Martina Bächli Maissen, meine Mutter Leena Maissen-Visapää und an meine Heidelberger und Pariser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Felicitas Eichhorn, Anna Frahm und Johan Lange, deren präzise Lektüre diesen Text bereinigte; an Guy P. Marchal für wertvolle Hinweise; an Franz Brunner, einen anregenden Sparringpartner, auch wenn er sich einen theatralischeren Text gewünscht hätte; an den sorgfältigen Lektor Urs Hofmann und die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Verlag Hier und Jetzt in Baden, mit denen ich einmal mehr angeregt und ertragreich zusammenarbeiten durfte.

      Zur Einführung:

      Grundlinien der Geschichtsschreibung über die Schweiz

      Viele Geschichten der Schweiz fangen mit der Ur- und Frühgeschichte an, mit den ersten Faustkeilen, die auf heutzutage schweizerischem Territorium gefunden wurden. Geschichtsschreibung über die Schweiz ist etwas anderes, und sie setzt auch nicht mit Julius Caesars Bericht über die Helvetier und seinen Sieg bei Bibracte ein. Selbst Urkunden, die uns viel über Machtverhältnisse und Gesellschaften im Mittelalter lehren, sind keine Quellen der Schweizer Geschichte im eigentlichen Sinn. Gewiss erfahren wir in mittelalterlichen Chroniken gelegentlich etwas über eine Stadt wie Zürich, oder Annalen verzeichnen die Begebenheiten in einem Kloster wie St. Gallen. Doch erst wer die Eidgenossenschaft und die Eidgenossen bewusst zu einem Gegenstand seiner Erzählung macht, kann zu den Begründern einer Geschichtsschreibung über die Schweiz zählen.5

      Nicht die ältesten Bünde selbst, etwa der vielzitierte von 1291, sind also die ersten Belege für eine schweizerische Geschichte, wohl aber die ersten Berichte, die solche Bündnisse als kollektive Akteure erfassen. Das zu bedenken ist auch deshalb wichtig, weil es im Heiligen Römischen Reich des 13. und 14. Jahrhunderts nicht nur viele Bündnisse und Eidgenossenschaften gab, sondern die späteren schweizerischen Orte auch an vielen von diesen beteiligt waren. So gehörten die Städte des Mittellandes von Freiburg bis St. Gallen mit Basel, Breisach, Villingen und Ensisheim 1333 zu einem Landfriedensbündnis mit den Herzögen von Habsburg. Noch 1424 bezeichnete Bern den Herzog von Savoyen als «unsern genedigen Herren und liebsten eitgenossen», was eben bedeutete, dass sie ein Bündnis mit einem Eid beschworen hatten.6 Das passt nicht in die spätere Erzählung, wonach die Eidgenossenschaft aus einer «Urschweiz» am Vierwaldstättersee und im Kampf gegen die österreichischen Vögte erwachsen sei. Deshalb erinnert sich niemand mehr an solche Bündnisse, die für die damaligen Zeitgenossen im Gebiet der heutigen Schweiz viel wichtiger und präsenter waren als die regionalen von 1291 und 1315. Aber auch sie waren nicht entscheidend für die Autonomie, die Herrschaftsrechte und das entstehende politische Selbstverständnis der künftigen eidgenössischen Orte. Diese lagen nicht in Bündnissen begründet, sondern in der Reichsfreiheit. Die Könige beziehungsweise Kaiser stellten dieses Privileg aus und erneuerten es bei Herrschaftsantritt. Damit wurden die begünstigten Orte reichsunmittelbar, unterstanden also dem Kaiser direkt und übten die von ihm gewährten Hoheitsrechte autonom aus, vor allem die hohe Gerichtsbarkeit über Leben und Tod.

      Uri, Schwyz und Unterwalden beanspruchten diese Reichsfreiheit dank den sogenannten Königsbriefen. Das früheste dieser Privilegien, das erhalten ist, wurde 1240 für Schwyz ausgestellt. Die meisten Königsbriefe stammen aus dem frühen 14. Jahrhundert, wobei etliche auch Fälschungen sein dürften, die nicht zuletzt Aegidius Tschudi (1505– 1572) zuzuschreiben sind, dem wichtigsten Chronisten der Schweiz. Angesichts dieser Ausrichtung auf das Heilige Römische Reich überrascht es nicht, dass Uri, Schwyz und Unterwalden 1309 unter einem Reichsvogt – dem Baselbieter Grafen Werner von Homberg, kein Habsburger! – vereint wurden und dann erstmals den gemeinsamen Namen Waldstätte erhielten. Der Reichsvogt ist nicht lange belegt, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich die Innerschweizer gewaltsam seiner entledigten: Werner von Homberg kämpfte 1315 bei Morgarten möglicherweise sogar auf Schwyzer Seite.7 Allerdings wissen wir über diese Jahre fast nichts. Erst in den 1340er-Jahren fügte der Zisterzienser Johannes von Viktring in seine lateinische Weltchronik die erste Beschreibung der Schlacht bei Morgarten – vier Sätze, die der Kärntner fast dreissig Jahre nach dem Ereignis formulierte. Ausführlicher tat dies etwa zur selben Zeit der Barfüssermönch Johannes von Winterthur, dessen Vater die Schlacht auf Habsburger Seite überlebt hatte. Doch für deren Beschreibung, gerade auch der Örtlichkeiten, folgte Johannes dem alttestamentlichen Bericht über den Kampf der Israeliten gegen Holofernes (Judith, Kap. 4).8 Beide Kleriker sprachen allein von «Swicenses» oder «Switenses», also Einwohnern von Schwyz.9 Ihre Informationen sind so vage, dass bis heute über den Ort der Schlacht gerätselt und – zwischen Zug und Schwyz – gestritten wird. Über dieses später oft geschilderte Ereignis ist kaum mehr bekannt, als dass es stattgefunden hat und dann alttestamentlich stilisiert wurde. Die Chronisten erwähnten auch keine Verbündeten oder gar «Eitgenozen», obwohl die Waldstätte sich im Bund von Brunnen 1315 bereits untereinander so nannten – aber wie erwähnt noch nicht in einem exklusiven Sinn. Eine territoriale Bedeutung, die den Geltungsbereich der versprochenen Hilfeleistungen absteckte, erhielt das Wort «unser eidgnosschaft» erstmals 1351 im Bund von Zürich mit den drei Waldstätten und Luzern.10 Dieses vorübergehende Bündnis wurde geschlossen, als Zürich sich unter Rudolf Brun, seinem Herrscher auf Lebenszeit, gegen eine konkurrierende, von den Habsburgern gestützte Patriziergruppe behaupten musste. Im Rückblick wurde seit dem 15. Jahrhundert daraus der «Beitritt» Zürichs zur Eidgenossenschaft, obwohl die zeitgenössischen Stadtchroniken den Bund von 1351 nicht einmal erwähnten.11

      Die älteste Stadtchronik von Zürich stammt frühestens von 1339, wenn man von den lokalgeschichtlichen Einsprengseln in einer lateinischen Chronica universalis Turicensis absieht. Im Unterschied zu dieser beschränkte sich die sogenannte Chronik von den Anfängen der Stadt Zürich allein auf die Stadtgeschichte, die sie auf Deutsch erzählte. In verschiedenen Redaktionen überliefert, wurde sie auch in anderen eidgenössischen Orten rezipiert. Die etwa gleichzeitig, bis 1340 verfasste Chronica de Berno und andere Beispiele aus Deutschland zeigen ebenfalls, dass die Reichsstädte im 14. Jahrhundert dank wirtschaftlicher Prosperität und politischer Autonomie begannen, sich als Gemeinschaften mit einer eigenen Vergangenheit darzustellen, die sich nicht in der Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich und seinen Kaisern erschöpfte. In einer vom Adel dominierten Kultur war es besonders wichtig, frühe Anfänge und damit eine vornehme Abkunft zu behaupten: Trier etwa wollte 1250 Jahre vor Rom durch einen Sohn der Semiramis gegründet worden sein, und Solothurn kuppelte seine Anfänge später an diese Sage an.12 Geschichtsschreibung entfaltete sich damit im 15. Jahrhundert auch im eidgenössischen Umfeld zu einer «Staatsangelegenheit», wobei der Staat die jeweilige Stadt war, die ihre Geschichte im offiziellen Auftrag von Stadtschreibern verfassen liess. Nicht zuletzt sollte die Erzählung die kriegerischen und käuflichen Erwerbungen von Gütern und Rechtstiteln legitimieren, die sie schilderte. Entsprechend gehörten Sammlungen und Abschriften von Urkunden zu diesen Geschichtswerken oder standen vielmehr in ihrem Mittelpunkt.13 So sucht man in Luzern und der Innerschweiz vergebens nach einigermassen zeitnahen Beschreibungen der Schlacht von Sempach von 1386. Ein Luzerner Bürgerbuch erwähnte sie kurz, wendete aber viel mehr Raum und Herzblut auf, um ein Jahr davor die Einrichtung einer Turmuhr festzuhalten. Das wenige, was Zeitgenossen über den