Thomas Maissen

Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt


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auf Wissensbestände zurück, die als plausibel und bewährt gelten. Andernfalls vermöchten sie nicht auf Dauer Orientierung zu schaffen und ein kollektives Selbstverständnis auszudrücken. Dafür beschränken sie sich in der grossen Menge des Überlieferten gezielt auf einige historische Phänomene, betonen die einen Aspekte, drängen andere in den Hintergrund oder vergessen sie. Denn es soll weniger der Wandel einer Gemeinschaft analysiert als ihr Wesen erzählt werden. Geschichtsmythen sind letztlich unhistorisch, insofern sie Begebenheiten wiederholen und vergegenwärtigen, die in der Vergangenheit spielen, aber jenseits ihres historischen Kontextes zeitlose Gültigkeit beanspruchen. Darin ist ein Geschichtsmythos konservativ, auch dann, wenn er im Namen einer «progressiven» Partei formuliert wird: Er schreibt die Vergangenheit so fest, dass ihre Erzählung weder modifiziert werden soll noch kann.

      Das Selbstbild, das sich aus diesem selektiven Umgang mit der Vergangenheit ergibt, ist tendenziell gefällig. Es muss dies auch sein, weil Selbstbewusstsein bei Kollektiven wie bei Individuen auch darauf beruht, dass man eigene Schwächen nicht gegen aussen betont, sofern man sie überhaupt selbst zu erkennen vermag. Doch das Ausblenden schafft diese Mängel nicht aus der Welt. Gerade deshalb brauchen Mythen auch eine kritische Geschichtswissenschaft als Korrektiv, das aufzeigt, was verdrängt wurde oder nicht mehr zeitgemäss ist, was den Aussenstehenden nicht mehr überzeugt und höchstens in der Nabelschau plausibel wirkt. Wirklich selbstbewusst und für andere berechenbar ist nur, wer Selbst- und Aussenwahrnehmung in eine solide Beziehung zueinander zu bringen weiss. Auch das gilt für die Individualpsychologie ebenso wie für diejenige der Völker.

      Die Pose des wissenschaftlichen Aufklärers ist gleichwohl heikel, wenn er vorgibt, dem abergläubischen und ungebildeten Publikum die historische Wahrheit zu verkünden. Geschichtsdeutungen und Geschichtsbilder sind immer im Fluss. Das weiss niemand besser als der Historiker, der sich auch für die Geschichte seiner Disziplin interessiert und bedenkt, wie sich in ihr Interpretationen und Wertungen über die Zeit hinweg verändert haben und verändern. Das ist unvermeidlich, weil sich die Fragestellungen, die Orientierungsbedürfnisse, die Wissensbestände und die Perspektiven stets ändern und nur aus der jeweiligen Gegenwart heraus zu verstehen sind. Das heisst allerdings nicht, dass Historiker beliebige Aussagen über die Vergangenheit machen können. Sie brauchen Phantasie, um sich vergangene Vielfalt auszumalen, haben aber dabei nicht die Freiheit des Schriftstellers – oder Politikers. Ihre Resultate müssen aus methodisch durchdachter, kritischer und für Dritte überprüfbarer Forschungsarbeit hervorgehen und sich unter anderem dem «Vetorecht der Quellen» unterwerfen, wie Reinhart Koselleck es genannt hat. «Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.»3

      Was gegenwärtig positiv, konstruierend gesagt werden kann, nennt man den wissenschaftlichen Forschungsstand: Er ist nicht endgültig und wird durch künftige Forschungen und Erkenntnisse revidiert werden. Der historiografische «Fortschritt», vielleicht besser das Voranschreiten besteht darin, dass der Geschichtswissenschaftler den jeweiligen Forschungsstand methodisch sauber kritisiert und stellenweise überwindet, weil er neue Quellen entdeckt oder alte überprüft, hinterfragt und in andere Zusammenhänge bringt. Diese Unterwerfung unter Quellen und Forschungsstand gilt für Wissenschaftler, nicht aber für diejenigen, die sich in der politischen Auseinandersetzung um die Zukunft ihres Landes auf historische Präzedenzfälle berufen und die Vergangenheit als Lehrerin für die Zukunft verstanden haben wollen. Es ist im Kampf um Macht und Wähleranteile legitim, wenn sie dabei veraltete Forschungsstände (über die vaterländische Geschichte wie über Atomenergie und vieles andere) für ihre Anliegen nutzen. Es ist aber ebenso legitim und manchmal auch nötig, dass ein Wissenschaftler die politische und volkstümliche Deutung der Geschichte mit dem aktuellen Wissensstand unter Fachleuten vergleicht und das Ergebnis der interessierten Öffentlichkeit mitteilt. Damit prägt er keine Geschichtsbilder, trägt aber zu deren Diskussion das bei, was er von Berufs wegen kann. Das ist letztlich eine negative, dekonstruierende Tätigkeit: Der Historiker sagt, was an den jeweils landläufigen «Wahrheiten» und Aussagen über die Geschichte mit den überlieferten Quellen übereinstimmt und was nicht. Es ist keine positive, konstruierende Tätigkeit deshalb, weil der Historiker die sinnstiftenden Verkürzungen von Berufs wegen nicht vornehmen darf, die nötig sind, damit Geschichtserzählungen für Kollektive sinnstiftend wirken können. Ebenso wenig darf er den Forschungsstand zugunsten von älterer Sekundärliteratur einfach ignorieren. Seine dicken, mit zahlreichen Fussnoten versehenen Abhandlungen sind etwas ganz anderes als die aus der Vergangenheit gezogenen Argumente, die sich Politiker und Journalisten in Sekundenschnelle in einer Talkshow entgegenwerfen können. Diese Argumente, diese Verkürzungen der wissenschaftlichen Kritik auf Allgemeinplätze darüber, wie es bekanntlich gewesen sei – sie sind der Stoff, aus dem der sinnstiftende Mythos wächst und in dem er sich verzehrt. Auch er wird laufend neu formuliert. Das muss so sein, wenn er einer sich stets verändernden Gesellschaft Spielräume eröffnen und nicht verbauen soll im Umgang mit Aussenwelten, die ebenfalls dem dauernden Wandel unterworfen sind. Aber ohne mythische Verkürzungen des Forschungsstandes geht es auf Dauer nicht – für die Geschichtswissenschaft zwar schon, nicht aber für das nach historischer Orientierung suchende Publikum.

      In diesem Sinn will das vorliegende Buch Zugänge und Leseweisen der schweizerischen Vergangenheit erschliessen, die sich nicht einem einzigen, geradlinigen nationalgeschichtlichen Narrativ unterordnen. Damit reagiert dieser Text auf die geschickte und sehr erfolgreiche Erinnerungspolitik der schweizerischen Nationalkonservativen in den letzten rund 25 Jahren. Diese verteidigen überzeugt und vehement ein Geschichtsbild, das in der Geistigen Landesverteidigung während des Zweiten Weltkriegs und im Kalten Krieg bis weit in die politische Linke hinein konsensfähig war. Demnach wahrte die Schweiz als historischer Sonderfall in einer feindlichen Umwelt dank besonderen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Qualitäten ihre einzigartigen Freiheiten. Ihre Erfolgsgeschichte verdanke sie allein ihren eigenen Leistungen, da das Land in der Vergangenheit und vor allem im Zeitalter der Weltkriege im Wesentlichen die richtigen und guten Entscheidungen getroffen habe. Diese Selbstzufriedenheit erlaubt sich, ihrerseits ohne historische Tiefendimension, die Friedensordnung geringzuschätzen, welche die europäische Integration seit 1945 und nach 1989 hervorgebracht hat.

      Die Nationalkonservativen tragen diese Position in Diskussionen über die nationale Vergangenheit derart dominant vor, dass die anderen politischen Lager hinterherhinkend wenig mehr anbieten als die Imitation patriotischer Folklore bei den bürgerlichen Parteien oder die linke Verweigerung des Streitgesprächs bei den Themen, die als solides Fundament des rechtspopulistischen Bollwerks erscheinen. Diese Hilflosigkeit überrascht immer wieder. Sie findet ihren Niederschlag in Motiven und Narrationen etwa von Fernsehfilmen und Zeitungsartikeln oder auf mehrsprachigen Informationsseiten des Bundes im Internet. Dabei kann es sich bei den Verfassern durchaus um Personen handeln, die sich politisch gar nicht zum rechtsbürgerlichen Lager zählen. Ihre Erzählmodelle aber konstruieren sie aus älteren Lesefrüchten oder gar Schulerinnerungen, und das sind die Fundamente der nationalkonservativen Vergangenheitspolitik.

      Bürgerliche Imitation wie linke Verweigerung und auch hilf- wie gedankenlose Wiederholung bestätigen die Unterstellung der Nationalkonservativen, dass es nur eine Deutung der schweizerischen Vergangenheit gebe, nämlich die ihrige, und dass die Zukunft des Landes den bewährten Pfaden der Vergangenheit zu folgen habe. Wer diesen Vorgaben folgt, verliert den Sinn für Alternativen und Widersprüche, verhindert demokratische Streitgespräche und kontroverse Meinungsbildung, verbaut sich Handlungsoptionen und Gestaltungschancen. Dieses Büchlein möge dieser Entwicklung entgegenwirken und denen als Handreichung dienen, die Argumente auf dem heutigen geschichtswissenschaftlichen Kenntnisstand im politischen Streitgespräch einbringen wollen. Dieser ist aktuell ausserordentlich gut dokumentiert: 2014 ist der letzte, dreizehnte Band des dreisprachigen Historischen Lexikons der Schweiz erschienen, dessen Artikel auch kostenfrei im Internet konsultiert werden können (www.hls-dhs-dss.ch). Die Bibliografie am Ende dieses Buches enthält grundlegende und weiterführende Literatur, die in den Anmerkungen abgekürzt zitiert wird. Einschlägige Einzelstudien, die in der Regel nur einmal in den Endnoten auftauchen, sind dagegen dort vollständig bibliografisch verzeichnet.

      In den folgenden fünfzehn Kapiteln werden ausgehend von Zitaten der nationalkonservativen Gallionsfiguren Christoph Blocher und Ueli Maurer Gemeinplätze über die Vergangenheit