Ernst Guggisberg

Pflegekinder


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des Bezirks Zofingen AG 1857 AEV des Bezirks Brugg AG 1860 AEV des Bezirks Aarau AG 1860 AEV des Bezirks Lenzburg AG 1861 AEV des Bezirks Bremgarten AG 1862 Armenkinder-Erziehungs-Verein des Bezirks Muri AG 1862 AEV des Bezirks Baden AG 1863 Verband Aargauer Armenerziehungsvereine 1864 AEV des Bezirks Zurzach AG 1865 AEV des Bezirks Kulm AG 1878 AEV Olten-Gösgen SO 1880 AEV Thierstein SO 1880 AEV Solothurn-Lebern SO 1882 AEV des Kantons Thurgau TG 1882 AEV des Bezirks Laufenburg AG 1888 AEV des Bezirks Balsthal-Thal SO 1889 AEV des Bezirks Rheinfelden AG 1890 AEV Kriegstetten/Wasseramt SO 1892 AEV Bucheggberg SO 1894 AEV des Bezirks Balsthal-Gäu SO 1898 Verband Solothurner AEV SO 1900 Verband schweizerischer AEV 1906 AEV des Bezirks Dorneck

      Tabelle 1: Gründungsjahre der kantonal-, bezirks- oder amteiweise geführten Armenerziehungsvereine inklusive ihrer Dachverbände (kursiv hervorgehoben), 1848–190637

      Kollektivmitglieder dieses schweizerischen Verbands waren neben den Armenerziehungsvereinen die Berner Gotthelfstiftungen, das Landwaisenhaus Basel, die evangelischen Erziehungsvereine Toggenburg und Rheintal im Kanton St. Gallen, verschiedene evangelische Pfarrämter und die Fischinger Waisenanstalt St. Iddazell im Kanton Thurgau. Als Einzelmitglieder traten mehrere Waisen- und Hausväter, Inspektoren und Amtsvormünder sowie Exponenten der Jugendfürsorge wie Pfarrer Albert Wild aus Mönchaltorf oder Jakob Kuhn-Kelly aus St.Gallen dem Gremium bei.38 Nur 20 Jahre nach dessen Konstituierung stellte der schweizerische Dachverband seine Tagungen wieder ein, da er sich wegen des expandierenden Jugendhilfswerks Pro Juventute (1912 gegründet) und des mit fast identischen Aufgaben betrauten, längst etablierten Verbands Schweizerischer Armenerzieher (1844 gegründet) für überflüssig hielt.39

      Die Namensänderung von «Armenerziehungsverein» hin zum zeitgenössischeren Begriff «Jugendfürsorgeverein» wurde im Fall der Aargauer Vereine im Jahr 1946 und bei den Solothurner Vereinen in den 1960er-Jahren vorgenommen. Im Kanton Thurgau entstand aus dem Armenerziehungsverein im Jahr 1970 der «Verein für Erziehungshilfe», einzig im Kanton Basel-Landschaft existiert noch heute der Armenerziehungsverein. Dieser gründete im Jahr 1965 – benannt nach dem ersten hauptamtlichen Inspektor des Vereins – die Birmann-Stiftung, die Familien- und Jugendberatung leistet.

      Die Studie über die deutschschweizerischen Armenerziehungsvereine soll in einem sozialgeschichtlichen Kontext gelesen werden. Dieser umfasst im weitesten Sinn die Analyse gesellschaftlicher Schichtung in ihrer Struktur und ihrem Wandel, «Vereinigungen und Bewegungen in der Gesellschaft», deren Interaktion miteinander sowie «das Handeln von gesellschaftlichen Formationen oder Gruppen».40 Dabei liegt der Gesellschaftsgeschichte als grundlegende Konstante das menschliche Leben in sozialen Beziehungen zugrunde, das im «Spannungsfeld von sozialer Ungleichheit stattfindet». Insbesondere befasst sie sich mit Gruppen, Schichten und Klassen sowie den Ursachen und Folgen sozialer Prozesse wie unter anderem den Auswirkungen der Industrialisierung. Ihr Ansatz ist «eher analytisch als hermeneutisch», das Erklären steht mehr im Zentrum als das reine Verstehen.41 Beim Erfassen und Darlegen von historischen Phänomenen steht nicht das individuelle, sondern das kollektive «Handeln und Leiden» im Mittelpunkt.42 Die Abhandlung setzt sich mit der vereinsgetragenen Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in den vier Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Solothurn und Thurgau auseinander. Nur in diesen Kantonen existierten «Armenerziehungsvereine». Der Forschungsgegenstand ist somit geografisch überregional angesiedelt, folgt aber – aufgrund der Organisation der Vereine – den Kantonsgrenzen und nicht wirtschaftlich-sozialen Regionen. Der Untersuchungszeitraum wurde anhand zweier Eckdaten des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins gewählt: der Gründung 1848 sowie der Reorganisation 1965.43 Dies geschah im Bewusstsein, dass der Namenswechsel keine eigentliche Neuorientierung in der Aufgabenerfüllung der Vereine bewirkte, sondern sich lediglich dem zeitgenössischen Sprachgebrauch annäherte.

      Im ersten Drittel der Studie wird nach der Verortung der Armenerziehungsvereine innerhalb der Sozietätenbildung und der stetig wachsenden Anzahl von Schweizer Institutionen für die dauerhafte «Platzierung» von Kindern und Jugendlichen gefragt. Dabei sollen die Vereine gegen «aussen», das bedeutet gegen Vereine mit ähnlichem Profil, abgegrenzt werden. Anschliessend wird eine andere Perspektive eingenommen: Die Armenerziehungsvereine werden in ihrem massgebenden Rahmen, dem kantonalen Kontext, betrachtet. Wie gestalteten die Vereine ihre Handlungsräume (Partizipation), wie interagierten sie mit Partnern, und wie reagierten sie auf Veränderungen (Aushandeln)?44 Welche Impulse gingen von ihnen in der kantonalen «Fürsorgelandschaft» aus, konnte ein reziproker Informationsaustausch geschaffen werden? Insofern werden die staatlichen Akteure, die Funktionsträger und Exekutivmitglieder, in die Studie einbezogen und erscheinen als weitere teilautonome Einheiten, «die ihrerseits im Handlungsraum des Politischen agieren und kommunizieren».45 Die Profilierung der aargauischen, solothurnischen, basellandschaftlichen und thurgauischen Armenerziehungsvereine mündet in eine Synthese, die das «Vereinskonzept» darlegt. Hier wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Vereine eine Alternative zur kommunal praktizierten Fremdplatzierung im Sinn hatten. Stellt die Fremdplatzierung durch einen Armenerziehungsverein einen Spezialfall dar?

      Im zweiten Drittel des Buchs stehen die Handlungsweisen und -spielräume der Vorstandsmitglieder bei der konkreten Armenpraxis im Zentrum. Administrationsabläufe wie «Vereinseintritt», «Platzierung», «Pflegeelternsuche», «Kontrolle» oder «Entlassung» werden quantitativ-analytisch dargestellt. Dabei kann die Kongruenz zwischen der «ideellen» und der «tatsächlichen» Armenfürsorge überprüft werden. Mit der Darlegung der verschiedenen Stationen der Fremdplatzierung werden auch die «Rollen» und das «Rollenverständnis» aus Vorstandsperspektive qualitativ charakterisiert: Welchen Part übernehmen Vorstandsmitglieder, Gemeindebehörden, Herkunftsfamilien, Pflegeeltern und Pflegekinder?