Ernst Guggisberg

Pflegekinder


Скачать книгу

Umfang erheblich von Eintrag zu Eintrag. Die Professionalisierung der Administration des beginnenden 20. Jahrhunderts hielt auch bei den Armenerziehungsvereinen Einzug, indem in der zweiten Generation der Verzeichnisse der biografische Teil zu einem normierten Stammdatenblatt kondensierte und der Akzent der Einträge auf der Kontrolle der Kostgeldzahlung liegt. Mit der vorangehenden Generation von Verzeichnissen verbindet diese standardisierte Darstellungsform insbesondere die Physis, nämlich die Buchform (siehe Abbildungen 2–4).

      Die Charakteristika der Verzeichnisse dritter Generation, die aus jenen der zweiten Generation abgeleitet sind, bringt ein Stammdatenblatt aus der Pflegekinderkartei des Armenerziehungsvereins Baden aus den späten 1920er-Jahren gut zum Ausdruck. Auf dem Recto wurden die Personalien sowie die Aufteilung des Kostgelds zwischen Gemeinde und Verein vermerkt. Auf dem Verso folgen die verschiedenen Mutationen in der Platzierung. Der biografische Anteil, der personenspezifische Informationsgehalt, unterscheidet sich in der Aussagekraft in dieser dritten Generation nun erheblich von der ersten. Die standardisierte Form vereinfacht eine statistische Auswertung und ermöglicht einen Vergleich zwischen den Vereinen.

      Diese minimalisierten Einträge sollen allerdings nicht den Eindruck erwecken, dass der Informationsgehalt im Lauf der Zeit abnahm: Die biografischen Einträge des 19. Jahrhunderts waren Kondensat verschiedener mündlicher Abmachungen, insbesondere aber sämtlicher Korrespondenz, deren Informationsgehalt in die Bücher übertragen wurde. Die Originale sind in den meisten Fällen nicht überliefert worden. Der Anspruch an eine professionalisierte und umfassende Informationsverwaltung wird im beginnenden 20. Jahrhundert mit einer vermehrten Aktenproduktion und einem grösseren Pflegekinderbestand gestiegen sein, sodass neben den informationsschwachen Verzeichnissen die Führung von Personendossiers zwingend wurde. Diese Personendossiers beinhalten Schriftverkehr, Pflegekinder- und Lehrverträge, Arztzeugnisse und so weiter und stellen somit einen viel höheren Aussagewert dar als die biografischen Einträge der ersten Generation. Im Fall des Armenerziehungsvereins des Bezirks Baden handelt es sich um rund 180 Personendossiers, in denen Korrespondenz der unterschiedlichsten Provenienzen (Pflegekind, Pflegeeltern, leibliche Eltern, Ärzte, Lehrer, Lehrmeister und so weiter) zum jeweiligen Kind gesammelt wurde.67

image

      Abbildung 2: Erste Generation

image

      Abbildung 3: Zweite Generation

      Einen weiteren Aktentyp verkörpert der Schriftverkehr, wobei gerade im Bereich der Pflegekinderdossiers hauptsächlich die eingehende Korrespondenz überliefert wurde. In den Falldossiers ist neben Schul- und Arztzeugnissen oder Lehrverträgen ebenso die eingehende Korrespondenz unterschiedlichster Absender vertreten, wie bei den sogenannten Handakten beim Quästor/Patron und zugleich Bezirksamtmann August Sandmeier (1918–1952).68 In seiner Funktion als Quästor69 generierte er eine Sammlung von Briefen über Kostgelder, Verdankung von Legaten und so weiter, und als Patron der Schulentlassenen korrespondierte er mit verschiedenen Organisationen und Firmen – wobei diese Funktion von seinem öffentlich-rechtlichen Amt kaum zu unterscheiden war.70 Eine Sammlung ausgehender Korrespondenz, die das Spektrum der Tätigkeit eines Inspektors zeigt, stellen die 23 «copie de lettres» aus dem Zeitraum 1910–1922 des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins dar.71 Sie wurde durch ein Reproduktionsverfahren in Kopialbüchern chronologisch abgelegt und mit einem Aktenzeichen dem jeweiligen Pflegekind zugeordnet. Einen für die Arbeit wichtigen Perspektivenwechsel bieten die rund 1000 Postkarten von Pflegekindern des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins aus den Jahren 1904 bis 1951.72 Insbesondere die kulturhistorische Forschung richtet auf diese autobiografischen Schriften («ego-documents», «pauper letters») ihr Augenmerk.73

image

      Abbildung 4: Dritte Generation

      In der Gesamtheit ermöglichen diese verschiedenen Aktentypen und -reihen eine profunde diachrone und regional vergleichbare Einsicht in die Pflegekinderadministration, 74 in die Handlungsweise des Vorstands, in die Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren, und darüber hinaus legen sie schriftliches Zeugnis über Tausende Teilbiografien von Kindern und Adoleszenten über einen Zeitraum von über 150 Jahren ab. Die schriftlichen Quellen bringen mit sich, dass vor allem die Sicht des Aktenbildners und Entscheidungsträgers überliefert wurde, wobei die Sicht der Kinder viel subtiler und verborgener in den verschiedenen Beständen vertreten ist. Dies ist auch der grosse Unterschied zu vergleichbaren Forschungsarbeiten, die bewusst die Sicht von Direktbetroffenen aufgrund von Interviews zum Ausdruck bringen.

      Forschungsstand

      Die jüngere Forschung im Bereich der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen ist von folgenden beiden Gesichtspunkten geprägt:75 Sie ist erstens zeitlich vornehmlich im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert angesiedelt und zweitens stark regional auf einzelne Akteure (Anstalten, Vereine, Behörden, Kirche) oder Fremdplatzierungsgruppen fokussiert. Darüber hinaus orientieren sich die Arbeiten stark an zivilrechtlichen, strafrechtlichen und armenrechtlichen Gesichtspunkten.76 Dies lässt sich mit dem Umstand erklären, dass sie als universitäre Qualifikationsarbeiten einen konkreten und eingrenzbaren Gegenstand behandeln. Nur gerade die Arbeit von Heinrich Tuggener et al.77 aus dem Jahr 1998 setzt sich mit dem gesamtschweizerischen Phänomen und den verschiedenen Fremdplatzierungsformen auseinander, ansonsten fehlen Überblickswerke. Allenfalls kann in diesem Zusammenhang noch die Publikation Ramsauers über die schweizerische Praxis der Kindswegnahmen genannt werden.78 Die gegenwärtige interdisziplinäre Aufarbeitung der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen verfolgt einen überregionalen Ansatz und wird diesen Bereich der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vertieft betrachten.

      Fallstudien zu Akteuren: Die Forschung zu konkret lokalen und institutionellen Akteuren der Fremdplatzierung wie Anstalten, Vereinen oder Gemeinde- und Kantonsbehörden gehen selbstverständlich auch über eine reine Institutions- oder Verwaltungsgeschichte hinaus und behandeln auch bestimmte Gruppen von Anstalts-, Verding- oder Pflegekindern im weitesten Sinn. In der Regel umschreiben sie den organisatorischen Aufbau der Institutionen sowie deren diachrone Entwicklung und dokumentieren den Alltag der spezifischen Zielgruppen.79 Es entstanden Lizenziats- und Masterarbeiten, die leider grösstenteils unpubliziert blieben (ein weiteres Charakteristikum der Forschungslage in diesem Bereich), was eine Synthese verschiedener Mikrostudien zu einer gesamtschweizerischen Makroperspektive oder einen regionalen Vergleich zwischen ländlichen und urbanen Gegenden erschwert.80

      Ausschliesslich auf die Armenerziehungsvereine ausgerichtete wissenschaftliche Darstellungen entstanden an den sozial-caritativen Frauenschulen in Luzern und Zürich zwischen 1932 und 1959 zu den Armenerziehungsvereinen Solothurn-Lebern, Olten-Gösgen, Thurgau, Zofingen, Muri, Baden und Baselland.81 Sie sind im Sinn einer zeitgenössischen Fremdwahrnehmung durch Frauen der Pflegeberufe von höchstem Interesse und gelten daher gleichzeitig auch als historische Quellen. Neueren Datums sind die beiden Lizenziatsarbeiten von Nicole Oelhafen und dem Autor, die sich mit unterschiedlichem zeitlichem und thematischem Fokus mit dem Armenerziehungsverein des Bezirks Baden im Kanton Aargau befassten. Die erste Arbeit konzentrierte sich auf das 19. Jahrhundert und den Schwerpunkt der Sozialdisziplinierung und der christlichen Nächstenliebe, während die zweite die Jahre 1920–1940 mit Augenmerk auf eine quantitative Auswertung der Pflegekinderdaten und die Einbettung der Aargauer Armenerziehungsvereine in die kantonale Verwaltung untersuchte.82

      Nicole Oelhafen setzte sich in ihrer 2007 eingereichten Lizenziatsarbeit einen zeitlichen Rahmen von der Vereinsgründung im Jahr 1862 bis 1887 und konzentrierte sich auf die beiden Konzepte der «christlichen Nächstenliebe» und der «Besserung». Sie suchte nach Erklärungsmustern für die «Rettungstätigkeit» des Vereinsvorstands, wobei sie betonte, dass ihre Arbeit nicht auf die einzelnen Pflegekinder, sondern vielmehr auf «das Konstrukt des Vereins» abziele.83 Ihre Hauptquellen bildeten daher insbesondere die Jahresberichte und Vorstandsprotokolle, die sie anhand eines hermeneutischen Ansatzes