vorantrieben. Wirtschafts- und Berufsverbände, wie der Handels- und Industrieverein (1879) oder der Gewerbe- und Bauernverband (1897), brachten Bürgerinteressen und Staat nach der Verfassungsrevision von 1874 näher zueinander. Der Bund honorierte und subventionierte die Bildung dieser Sozietäten, die sich klar von den früheren zumeist philanthropischen oder kulturellen unterschieden.4 Das Schweizer Vereinswesen wird einerseits als städtische und andererseits als ausgesprochen protestantische Entwicklung bezeichnet.5 Dies wird auf die weniger progressiv ausgerichteten ländlichen katholischen Gebiete zurückgeführt, die mit den dynamischen protestantischen Städten nicht Schritt halten konnten. Die Vereinsgründungen waren bis 1800 gering6 und nahmen bis 1860 auch nur gemässigt zu. Ab 1860 stiegen sie indes signifikant, insbesondere bei Wirtschafts- und Sportorganisationen oder Berufsvereinigungen. Der Zenit wurde um 1900 erreicht, als pro 1000 Einwohner rund zehn Vereine existierten.7
Im Vereinswesen vollzog sich aber nicht nur eine äussere, sondern auch eine innere Entwicklung. Die älteren Vereinsstrukturen waren stark hierarchisch ausgerichtet, doch konnten sich alle Mitglieder aktiv am Vereinsleben beteiligen. Die Vollversammlung traf sich regelmässig zum Gedankenaustausch, sodass ein reger Kontakt zwischen den Teilnehmern zustande kam und Beschlüsse von allen Mitgliedern aus erster Hand mitverfolgt und mitgestaltet werden konnten. Dies war auch explizit gewünscht, weswegen bei einigen Vereinen die Mitgliederzahl bewusst klein gehalten wurde. Darüber hinaus engagierte sich ein Vereinsmitglied meist nicht nur in einem Verein, sondern in mehreren – was ein Netzwerk und eine Verflechtung der bürgerlichen Gesellschaft, die sogenannte Soziabilität, mit sich brachte.8 Nach der Gründung des Bundesstaats trat eine Öffnung der Gesellschaften für weitere Bevölkerungskreise ein, indem nicht zuletzt auch die zuvor meist sehr hoch angesetzten Mitgliederbeiträge gesenkt wurden. Die Vergrösserung der Vereine brachte die Ausdifferenzierung der Vereinsstrukturen mit sich, sodass die leitenden Entscheide im Vorstand gefällt und die Mitglieder nur noch zur Jahresversammlung eingeladen wurden. Im Verein gab es somit in Form des Vorstands Aktivmitglieder, die an der Generalversammlung durch die Passivmitglieder ergänzt wurden.9
Das Vereinsleben in der Schweiz des 19. Jahrhunderts war erklärtermassen ein sehr aktives und breit gefächertes. Der erste Versuch, diese Vielzahl an Vereinen gesamtschweizerisch zu erfassen, wurde vom Eidgenössischen Departement des Innern unternommen.10 Um Aufschluss über Anzahl, Mitgliederbestände und Finanzverhältnisse derselben zu erhalten, richtete es am 31. Dezember 1858 einen Aufruf an «sämmtliche Vereine des In- und Auslandes».11 Motiv zur Erhebung war einerseits die Unterstützung der Sozietäten mittels eines eigens bereitgestellten Bundeskredits, andererseits wurde aber auch geprüft, inwiefern die Vereine dem zu gründenden Statistischen Amt zur Erhebung von Basisdaten dienlich sein könnten.12 Das Eidgenössische Departement des Innern interessierte sich darüber hinaus für die politische, nationalökonomische und intellektuelle Gesinnung der Vereine. Insgesamt gingen 2746 Antworten von 2706 Gesellschaften im Inland und 40 im Ausland ein.13 Diese wurden einander in sechs Kategorien gegenübergestellt: «Vaterländische und gemeinnützige Vereine», «Wohltätigkeits- und Humanitätsvereine», «Wissenschaftliche Vereine», «Wirthschaftliche Vereine», «Ersparnisskassen» und «Andere Vereine».14
Die Zusammenstellung verdeutlicht, dass das Schweizer Vereinswesen Mitte des 19. Jahrhunderts bis auf 14 gesamtschweizerische Vereine ein ausgesprochen kantonales war. Die Mehrzahl waren in den Kantonen St.Gallen, Luzern und Aargau beheimatet.15 Das Departement schätzte die tatsächliche Anzahl an Vereinen 5000 bis 6000, da die Angaben der Kantone Wallis, Neuenburg, Appenzell Innerrhoden, Freiburg, Glarus, Zürich, Graubünden, Thurgau, Tessin und Waadt als unvollständig taxiert wurden. Beim finanziellen Aspekt bemerkte das Departement, dass die gegenwärtige Aufstellung ebenfalls nicht vollends schlüssig sei, «weil bei den meisten Kantonen noch neue Aufschlüsse zu gewärtigen sind; es mag indessen […] genügen, hier zu sagen, dass auch nur die materiellen Leistungen der Vereine in einigen Kantonen den Staatsbudgets theils sehr nahe kommen, theils dieselben übertreffen.»16 Die saumseligen Vereine wurden erneut angeschrieben, um die Statistik nach Möglichkeit zu vervollständigen. Danach wurde die Gesamtzahl an Schweizer Vereinsmitgliedern auf rund 420 000 Personen geschätzt.17 Als Nachwirkung dieser ersten Erhebung erstellten die Kantone Basel-Stadt, Thurgau und Genf Zusammenstellungen über einzelne Vereinstypen wie Sparkassen, wohltätige «Hülfsgesellschaften» oder öffentliche Bibliotheken.18
Weltausstellungen als Schaubühne für eine moderne, sozial engagierte Schweiz
Auf die Umfrage des Jahres 1858 folgte im Vorfeld der Weltausstellung in Wien 1873 eine weitere Enquête zur Erfassung des Schweizer Vereinswesens mit Akzent auf sozial ausgerichteten Institutionen. Der Basler Professor Hermann Kinkelin (1832–1913) konnte für die Koordination gewonnen werden und holte das statistische Material ein. Die Drucklegung fand hingegen nicht rechtzeitig zur Weltausstellung statt, sodass lediglich das Manuskript auflag. Veröffentlicht wurden «Die Schweizerischen Vereine für Bildungszwecke» erst 1877 von Eduard Keller und Wilhelm Niedermann (1845–1906). Dies insbesondere auf das Betreiben von Bundesrat Carl Schenk (1823–1895), der insistierte, dass das gesammelte Material nicht in den «Archiven des statistischen Bureaus vergraben, sondern einem weitern Publicum zugänglich gemacht werden [sollte], da in demselben ein bedeutendes culturhistorisches Moment von allgemeinem Interesse zur Darstellung gelange».19
Die beiden Autoren bemerkten in ihrem Vorwort, dass «die Arbeit selbst, wie sie vorliegt, bei weitem noch nicht auf Vollständigkeit den Anspruch machen kann – was überhaupt kaum je möglich sein wird, da der Bestand der Vereine zu oft wechselt und die Angaben der Vereine vielfach sehr ungenau oder dürftig sind».20 Dennoch glaubten sie ein realistisches Gesamtbild der Entwicklung des schweizerischen Vereinswesens, zumal der Vereine für «Bildungszwecke», gezeichnet zu haben.21 Nach ihrer Zählung existierten in der Schweiz im Jahr 1871 insgesamt 3552 Vereine mit vorherrschendem Bildungszweck, wobei auf 751 Einwohner somit ein Verein zu stehen käme.22 Im 17. und 18. Jahrhundert bestanden lediglich sechs Vereine mit Bildungszweck, zwischen 1831 und 1840 bereits 237, zwischen 1841 und 1850 schon 359, zwischen 1851 und 1860 sogar 50923 und zwischen 1861 und 1870 insgesamt 1216.24 Unter Ausschluss der hauptsächlich religiösen Vereinigungen25 wurden die Gesellschaften in fünf Kategorien unterschieden, die den weit gefassten Begriff der «Bildungszwecke» genauer umrissen: gemeinnützige Vereine, wissenschaftliche Vereine, künstlerische Vereine, Vereine für allgemeine Bildung und Vereine für Körperbildung.26
Innerhalb der Kategorie gemeinnütziger Vereine wurden neun Unterkategorien ausgewiesen, 27 darunter 55 sogenannte «Armenerziehungsvereine» (siehe Tabelle 3).28 Bei dieser Unterkategorie fällt auf, dass nicht zwischen Vereinen und Institutionen unterschieden wurde.29 Die meisten existierten im Kanton Aargau. Danach folgten der Kanton Bern mit sieben Anstalten, St. Gallen mit sechs Institutionen sowie der Kanton Zürich mit vier Anstalten und zwei Vereinen.30 Auffallend viele Armenerziehungsvereine befinden sich in der Ostschweiz, dagegen sehr wenige in der französischsprachigen Schweiz.
Wie eingangs erwähnt, entstanden die ersten umfassenden Überblickswerke der karitativen Schweiz explizit für die Weltausstellungen von 1873 in Wien und 1876 in Philadelphia.31 Unter den zahlreichen Teilnehmern Letzterer war auch die Schweiz mit verschiedenen Verwaltungsbehörden, Firmen, Verbänden und Institutionen vertreten.32
1860 | Schweizerischer Armenerziehungsverein33 | |
1860 | AG | Armenerziehungsverein des Bezirks Aarau |
1855 | AG | Armenerziehungsanstalt Kastelen bei Aarau |
1862 | AG |
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