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Tabelle 3: Übersicht der Armenerziehungsvereine nach Keller und Niedermann, 1877
Die Schweiz stellte nicht wie andere Teilnehmer in mehreren Gebäuden aus, sondern konzentrierte ihre Aussteller auf den Standort im Industriepalast. Im Departement Erziehung und Unterricht wurde auch eine Gruppe «physical, social and moral condition of man» aufgeführt, worunter verschiedene kantonale und schweizerische Anstalten, gemeinnützige Vereine und sogar die Armenerziehungsvereine der Aargauer Bezirke Aarau, Lenzburg, Zurzach und der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein die Schweiz repräsentierten (Vitrine J., siehe Abbildung 5).34 Unter den schweizerischen Ausstellern erhielt gut die Hälfte vom internationalen Preisgericht Einzel- und Kollektivdiplome: «Die fünf Collectiv-Diplome, ohne Medaillen, umfassen 38 Aussteller im Unterrichts- und Erziehungswesen, sowie der Wohlthätigkeits-Anstalten.»35 Diese Kollektivdiplome gingen an die Armenerziehungsvereine der Bezirke Aarau und Zurzach sowie an den basellandschaftlichen, an die Société de secours mutuels du Val de Travers im Kanton Neuenburg und an den Waisenvater Johannes Wellauer in St. Gallen.36
Inwiefern die Schweiz mit ihren Anstalten und Vereinen das internationale Publikum begeistern konnte, bleibt ungewiss. Kommissär Guyer bemerkte, dass «Herr Professor Kinkelin in Basel […] durch seine grafisch-statistischen Atlasse über das schweizerische Unterrichtswesen, welche ungetheilte Bewunderung fanden, wesentlich zur Anerkennung der schweizerischen Section» beitrug.37 Die Armenerziehungsvereine selbst massen der Ausstellung anscheinden wenig Bedeutung zu, lediglich im Jahresbericht der Zurzacher Gesellschaft wurde vom Kollektivdiplom kurze Notiz genommen: «Jene Anerkennung gebührt demnach nicht sowohl dem Vorstande, als vielmehr den Repräsentanten, den vielen Freunden und Gönnern des Vereins von jetzt und früher, von deren Bethätigung und Unterstützung das weitere Gedeihen dieses menschenfreundlichen Institutes abhängt.»38 Ebenfalls im Vorfeld der Weltausstellung in Philadelphia entstand das Überblickswerk von Johannes Wellauer (1815–1881) und Johann Martin Müller (1819–1892) über die schweizerische Anstaltslandschaft.39 Der Grundstein für das Werk wurde 1873 anlässlich der Versammlung der Schweizerischen Armenerzieher in St. Gallen mit dem Fokus auf die Waisenerziehung gelegt. Aus der anfänglichen Gegenüberstellung von Waisenhäusern auf dem Land mit denjenigen in der Stadt wurde 1875 mit dem Aufruf Friedrichs von Tschudi (1820–1886), dem Verantwortlichen für den Beitrag im «Departement Erziehung» der Weltausstellung, ein gesamtschweizerisches Verzeichnis der Bildungsanstalten angestrebt.40 Im Gegensatz zum Werk Kellers und Niedermanns sollte nicht das gesamte Spektrum der «Armenversorgung» illustriert werden, sondern nur die dauerhafte «Platzierung» von Kindern und Jugendlichen in Institutionen: «Selbstverständlich lag es in unsrer Aufgabe, nur die Armenerziehung in Anstalten darzustellen, und wir hoffen, dass auch die Armenerziehung in Familien durch Vereine und Private in ähnlicher Weise ihre Bearbeiter finden werde.»41
In der Einführung warfen die Autoren einige Schlaglichter auf die Entwicklung der Fremdplatzierung und bemerkten, dass vermögende Familien Waisen meist problemlos bei Verwandten unterbringen könnten, wobei auch diese kaum in der Lage seien, «dem Gemüths- und Seelenleben des Kindes befriedigenden Ersatz liebevoller Eltern zu bieten».42 Sie folgerten: «Weitaus schwerer aber wird es den Waisen armer Familien, die ganz verlassen da stehen, weil die Verwandten sich ihrer nicht annehmen wollen, wohl auch nicht können […].»43 Somit müssten Pflegefamilien ausserhalb des Verwandtschaftskreises diese Aufgabe übernehmen.44 Die Autoren führten Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und Philipp Emmanuel von Fellenberg (1771–1844) ins Feld, die die Bibelverse «Was ihr einem dieser Kleinen thut, das habt ihr mir gethan» und «Wer ein solch’ verlassenes Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf» in Neuhof und Hofwyl vorgelebt hätten: «In dem Grundprinzip einig, dass dem Elend des Volks nur durch eine bessere Erziehung und Bildung geholfen werden könne».45 Dass diese philanthropische Sichtweise und die Zusammenarbeit von Privaten, Vereinen und gesetzlicher Armenpflege in der Vergangenheit nicht zwangsläufig in die Schaffung pädagogisch wertvoller Institutionen mündeten, verdeutlichten die Autoren mit den unsäglichen Verhältnissen in einigen kommunalen Waisen- und Armenhäusern.46
Abbildung 5: Schweizer Sektion im Main Building der Centennial International Exhibition in Philadelphia, 1876
Die professionalisierte Anstaltsführung wurde durch Grössen wie Johann Caspar Zellweger (1768–1855), Johann Adam Pupikofer (1797–1882) oder Johannes Kettiger (1802–1869) innerhalb der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und ihrer «Armenlehrerbildungscommission» vorangetrieben.47 Wellauer und Müller konstatierten jedoch, dass diese «Anstrengungen, durch tüchtige Erzieher die Absichten der Armenfreunde und Gemeinden zur sittlichen und geistigen Hebung der Kinder zu unterstützen und damit die Wurzel der Armennoth abzuschneiden», in einem «traurigen Gegensatz» stünden: Dieser bestehe darin, «dass einzelne Gemeinden bei der Wahl ihrer Waisenväter die Erziehung als Nebensache und die ökonomische Verwaltung wieder zur Hauptsache machen und von den Anstaltsvätern keine pädagogische Vorbildung verlangen».48
Mit nur 33 Waisenanstalten, 18 in grösseren und kleineren Städten sowie 15 auf dem Lande, stellten sich die Verfasser die Frage: «Wie wird für die Waisen, welche nicht in Anstalten untergebracht sind, gesorgt?»49 Der Kanton St. Gallen sollte mit seinen fünf Waisenhäusern und 72 Armenanstalten, in denen neben 1250 erwachsenen Armen auch 620 Kinder lebten, diese Frage beantworten. Wellauer und Müller stellten in den Raum, dass die erwachsenen Armen krank und oftmals kriminell veranlagt seien. «Was Kinder in solcher Gesellschaft für eine Erziehung erhalten werden, kann man sich denken; die Meisten werden eben gross gezogen in den Sünden der Alten und in der Mehrzahl künftig wieder als unterstützungsbedürftige Personen der Gemeinde zur Last fallen […].» Diese Gefahr wäre in vorbildlich geführten Waisenanstalten nicht vorhanden, sodass sie «mit viel sichererm Erfolg zu guten Menschen erzogen werden könnten; Ausnahmen stossen die Regel nicht um».50
Die Armenhäuser