Ernst Guggisberg

Pflegekinder


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1890 SO Armenerziehungsverein Kriegstetten 1890 SO Armenerziehungsverein des Bezirks Balsthal-Thal 1882 TG Armenerziehungsverein des Kantons Thurgau 1887 UR Kantonale Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder in Altdorf 1885 VD Orphelinat des Alpes 1831 VD Société en faveur de l’enfance abandonnée à Lausanne 1876 VD Société en faveur de l’enfance abandonnée dans le VIIIe arrondissement à Yverdon 1882 VD La Solidarité 1889 ZH Kommission für Versorgung verwahrloster Kinder im Bezirk Winterthur 1865 ZH Kommission für Versorgung verwahrloster Kinder im Bezirk Zürich

      Tabelle 4: Armenerziehungsvereine nach Karl Schweizer, 1897

      Schweizer stellte fest, dass es nur 14 Kantone gebe, die aufgrund einer besonders guten staatlichen oder kommunalen Armenpflege oder «wegen günstiger socialer Verhältnisse» auf solche Vereine verzichten könnten: «Im Kanton Bern [sind] solche Vereine zur Erziehung verwahrloster Kinder nicht halb so dringender Natur wie in Baselland, Solothurn oder im Aargau […], weil durch die staatliche Gesetzgebung die Gemeinden verpflichtet sind, ein wachsames Auge auf die in ihr heranwachsende Jugend zu haben, und auch die Mittel besitzen, um der Verwahrlosung entgegentreten zu können.»66 Ob mit diesem Mittel die besonders im Kanton Bern stark praktizierte Form der «Mindersteigerung» oder das «Verdingkinderwesen» gemeint war, sei dahingestellt.

      Niedermanns Buch über die gesamtschweizerische Fürsorgelandschaft blieb bis zum Jahr 1910 und zur Publikation Albert Wilds über die «Veranstaltungen und Vereine für soziale Fürsorge in der Schweiz» das Standardwerk: «es soll nicht ein statistisches Werk oder eine lückenlose Übersicht über die gesamte soziale Fürsorge in der Schweiz darstellen, sondern ein Nachschlagebuch sein zum praktischen Gebrauch für Behörden, Vereine und Private, wie der ‹Niedermann›.»67 Wilds Werk, das somit als Niedermann’sche Neuausgabe aufgefasst wurde, gruppierte die 3697 Institutionen und Vereine (wobei einige doppelt gezählt wurden) nicht mehr nach Kantonen und dann in verschiedene Gebiete, sondern in verschiedene Lebensstufen «entsprechend der menschlichen Entwicklung von der Wiege bis zum Grabe».68 In seinen vier Jahre später folgenden Bänden über «Das organisierte freiwillige Armenwesen in der Schweiz»69 beschrieb er ausführlich die Stellung der freiwilligen Armenpflege und verliess somit die reine Aufzählung vorangehender Veröffentlichungen. In der Schweiz existierten 1912 nach seinen Erhebungen insgesamt 1836 Institutionen der organisierten freiwilligen Armenpflege.70 Wild unterschied die Sparten kantonale und städtische allgemeine freiwillige Armenpflege, die Armenpflege der Freimaurer-Logen, 71 die konfessionelle Armenpflege, die organisierte freiwillige Armenpflege für besondere Arten von Armen, 72 die freiwillige Unterstützung zu bestimmten Zeiten, freiwillige Armenpflege von Schweizern ausserhalb ihres Heimatkantons sowie die Armenpflege für Auslandschweizer.73

      Wild führte den grossen Fächer an «allgemeinen freiwilligen Armenpflegen» auf die Einwandererströme des 18. Jahrhunderts zurück.74 Es handelte sich seiner Ansicht nach bei den meisten Armen um Ausländer und Kantonsfremde. Besonders Erstere immigrierten bereits als unterstützungsbedürftig in die Schweiz und hätten von den Ortsarmenpflegen gar nicht unterstützt werden können, sodass in der Konsequenz die freiwillige Armenpflege in Erscheinung treten musste. Als weitere Verschärfung der Zustände nannte Wild die zunehmende Mobilität der Kantonsbürger, sodass die zugewanderten Nichtbürger in den Gemeinden den grösseren Teil der Einwohner ausmache und die Einwohner mit Bürgerrecht in die Minderheit gerate. Er konstatierte, dass die kantonalen Armengesetze mit der Divergenz zwischen Wohnorts- und Heimatprinzip den tatsächlichen Verhältnissen nicht Rechnung trügen. Da die Bürgergemeinden kaum für ihre eigenen Armen aufkommen konnten, war es logisch, dass für die zugezogenen Nichtbürger ebenfalls die freiwillige Armenpflege in die Bresche springen musste.75 Als dritte Ursache der spriessenden privaten Armenpflege des ausgehenden 19. Jahrhunderts nannte Wild den Umstand, dass die gesetzliche Armenpflege nie über eine Deckung der Grundbedürfnisse «Nahrung und Kleidung» hinausging und somit die freiwillige Armenpflege ein «schönes und reiches Feld der Betätigung» erhielt, 76 indem sie die rein existenzsichernde Fürsorge mit individuellen Hilfestellungen für verschiedene Alters- und Armutsgruppen ergänzte. Hier kritisierte er aber, dass dabei die öffentliche Armenpflege aus der Pflicht genommen und sogar öffentlich-rechtliche Aufgaben an die privaten Sozietäten noch so gerne überantwortet würden. Er resümierte, dass «die organisierte freiwillige Armenpflege in der Schweiz eine ganz hervorragende Stellung einnimmt, dass sie durchaus keine quantité négligeable, dass sie geradezu unentbehrlich ist».77

      Die organisierte «freiwillige Armenpflege für besondere Arten von Armen» unterteilte Wild einerseits in Altersstufen und deren individuelle Bedürfnisse (Kinder, Lehrlinge, Alte), in physische oder psychische Beeinträchtigungen und andererseits in Bedürftigkeit in besonderen Lebenssituationen.78 In dieses Schema fiel auch die Fürsorge der «Erziehungsvereine» für arme und «verwahrloste» Kinder in den Kantonen Zürich, Bern, Luzern, Solothurn, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Waadt, Neuenburg und Genf: «Die Erziehungsvereine oder, wie sie auch noch etwa genannt werden: Armenerziehungsvereine, bezwecken die Versorgung armer verwaister, sittlich gefährdeter und verwahrloster Kinder, um dadurch der fortschreitenden Armut und der Verwahrlosung unter der Jugend zu wehren.» Die Armenerziehungsvereine «suchen die Kinder einer passenden Berufslehre zuzuführen». Die «Platzierung» geschehe üblicherweise in Familien oder Anstalten, nur ein Verein «unterstützt die Kinder auch in den eigenen Familien (bei Halbwaisen), wo günstige häusliche Verhältnisse und gute Aufführung der Kinder sich zeigen».79 Diese 58 Vereine unterstützten selbständig Kinder, wogegen die sogenannten Kinderschutzvereine ihre Aufgabe darin fanden, Misshandlungsfälle an Behörden und Fürsorgevereine weiterzuleiten, in Vertretung der Behörde Pflegeplätze zu inspizieren, Kostorte zu vermitteln sowie Kleidung an die Kinder zu verabfolgen.80 Der unterschiedliche Vereinszweck der Kinderschutz- und Armenerziehungsvereine manifestiere sich am auffälligsten bei der Höhe der Ausgaben: Kinderschutzvereine beteiligten sich nicht an den Kosten für Kost und Logis der fremdplatzierten Kinder, diese wurden von den Gemeindebehörden komplett übernommen.

      Albert Wild postulierte in seinem Schlusswort, dass die freiwillige Armenfürsorge wohl für jede Erscheinung von Hilfsbedürftigkeit eine passende Organisation besitze. Er bemängelte einzig, dass es nur wenige Vereine gebe, die sich mit der Vorbeugung der Armut beschäftigten. Die Vielgestaltigkeit der schweizerischen freiwilligen Fürsorge verlange aber regelrecht nach einem Zusammenschluss und einer Zentralisation der privaten und öffentlichen Armeninstitutionen und -behörden.81

      Entwicklung