Jahr 1930 sogar mehr rein katholische (232) als protestantische (212) in der Schweiz vertreten waren. Die Anzahl Institutionen für protestantische Jungen überstieg in den Stichjahren 1850 und 1890 die für katholische oder sogar die interkonfessionell ausgerichteten. Ein ähnliches Bild bietet sich bei den protestantischen Mädchen, für die im Jahr 1850 im Gegensatz zu den katholischen überhaupt Institutionen der «geschlossenen Fürsorge» bestanden. Bei den Katholiken nahmen die Platzierungsmöglichkeiten für Mädchen allerdings signifikanter als bei den Jungen zu, sodass 1930 Gleichstand für katholische und für protestantische Mädchen herrschte.
Tabelle 7: Übersicht über geschlechter- und konfessionell ausgerichtete Institutionen der Schweiz. Als Referenz für die prozentualen Berechnungen gelten 1850: 125 Anstalten und Vereine = 100%; 1890: 515 Anstalten und Vereine = 100%; 1930: 1314 Anstalten und Vereine = 100 %. Legende: m = männlich, w = weiblich, prot. = protestantisch, kath. = katholisch, interk. = interkonfessionell
Wenn die Betrachtungen auf eine Grundmaxime heruntergebrochen werden sollen, so lässt sich grob umschreiben, dass sich die Vereine in erster Linie als geschlechts- und konfessionsneutral in Bezug auf die Aufnahme von Pflegekindern verhielten und die Anstalten diesbezüglich stärker unterschieden. Die politisch und konfessionell neutralen Vereine oder Kantone stellten keine konfessionellen Barrieren auf. Hingegen schien es aus moralischen und gesellschaftlichen Gründen naheliegend, Anstaltszöglinge ab einem bestimmten Alter nach Geschlechtern zu trennen. Ein Konzept, wie es beispielsweise bei Vereinen nicht griffig gewesen wäre, da deren Pflegekinder in Familien mit Kindern beiderlei Geschlechts kamen, was der protestantischen «Familienkonzeption» entsprach.
Geografische Auswertung
Neben dem konfessionellen und geschlechtsabhängigen Institutionsspektrum ist auch die geografische Disposition der offenen und geschlossenen Fürsorge von Interesse. Auch hier wurden auf Grundlage der vorgestellten Überblickswerke die drei Stichjahre 1850, 1890 und 1930 einander gegenübergestellt (siehe Grafik 1–3 im Anhang).
Im Jahr 1850 dominierten die Anstalten in der Deutschschweiz, während in der Westschweiz die Fürsorgelandschaft nur sehr dünn besiedelt war. Waisenhäuser waren im 18. Jahrhundert ausgesprochen städtische Erscheinungen, erst im 19. Jahrhundert wurden ländliche Anstalten errichtet, die jedoch in Distanz einer Tagesreise von der nächstgrösseren Ortschaft oder Stadt lagen. Somit konnten die Mitglieder der (städtischen) Trägerschaft die Institutionen noch gut erreichen.97 Nicht nur der Standort, sondern auch die Lokale an sich unterschieden sich markant zwischen Stadt und Land. Erstere Gebäude waren repräsentativ und in den Städten an prominenter Stelle errichtet. Die Anstalten in ländlichen Gebieten waren in funktionalen Gebäuden untergebracht, oftmals mit einer eigenen Schule. Zudem wurde in den ländlichen Anstalten strikter zwischen den Altersgruppen getrennt als beispielsweise in urbanen Waisenhäusern, in denen auch Erwachsene unterkamen.98 Die meisten Anstalten und Vereine befanden sich im Kanton Zürich, gefolgt von den Ostschweizer Kantonen sowie dem Kanton Bern (inklusive dem heutigen Kanton Jura).
Dass von den Jahresversammlungen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, die zwischen 1823 und 1850 wiederholt in Zürich und der Ostschweiz stattfanden, Impulse zu Anstaltsgründungen ausgingen, scheint naheliegend.99 Vereine mit Fremdplatzierungscharakter existierten ebenfalls hauptsächlich in der Deutschschweiz, besonders hervorzuheben sind hier die Bezirks-Armenerziehungsvereine im Kanton Basel-Landschaft. In der Westschweiz gab es städtische Waisenhäuser im Kanton Neuenburg oder sogenannte «asiles rurales» im Kanton Waadt.
Um 1890 vergrösserte sich die institutionelle Infrastruktur insgesamt und besonders markant in der östlichen Schweiz (Kantone St.Gallen, Thurgau, beide Appenzell), wo die «Rettungsanstalten» die grösste Verbreitung fanden.100 Im Kanton Schaffhausen wurden zwischen 1850 und 1890 insgesamt 21 Kleinkinderschulen gegründet, hingegen keine neue Anstalt für die geschlossene Fürsorge. Zwischen 1850 und 1890 entstanden die meisten Aargauer und einige der Solothurner Armenerziehungsvereine, sodass die ehemals spärlich besiedelte Fürsorgelandschaft dieser Kantone sich verdichtete. Aber auch in der Westschweiz nahm das Spektrum zu, insbesondere fielen Vereinsgründungen im Kanton Waadt sowie Anstaltsgründungen in den Kantonen Neuenburg und Freiburg (grösstenteils Waisenhäuser) ins Gewicht. Die katholische Zentralschweiz baute eine Fürsorgelandschaft überhaupt erst mit zwei Vereinen im Kanton Luzern (darunter das Seraphische Liebeswerk) und mehreren Anstalten in den angrenzenden Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz auf. In der italienischsprachigen Schweiz wurden zwischen 1844 und 1850 sowie zwischen 1870 und 1890 diverse «Asili infantili» gegründet.101
Im Jahr 1930 verdichtete sich die Fürsorgelandschaft in den Kantonen Zürich, dem heutigen Jura und Bern, insbesondere aber in der Zentralschweiz. Im Tessin lag der Trend nach wie vor bei der Gründung von Kindertagesstätten (siehe Grafik 6 im Anhang).
Typologische Auswertung
Nachdem die Anstalten und Vereine auf regionale, konfessionelle und geschlechtsspezifische Faktoren hin untersucht wurden, soll eine typologisierte Klassifikation Aussagen über die verschiedenen Arten von Anstalten und Vereinen zulassen (siehe Grafik 4 im Anhang): 1) Waisenhaus, Anstalt, Armenerziehungsanstalt, 2) Sonderheime (Blinden-, Taubstummen-Anstalten, Einrichtungen für «Epileptische» und so weiter), 3) Vertreter der nicht dauerhaften Platzierung wie Tageshorte und Kindergärten, 4) Vereine mit Fremdplatzierungscharakter, 5) Pflegekinderkontrollbehörden privater oder öffentlicher Natur, Amtsvormünder.
Die ältesten Vertreter der schweizerischen Fürsorgelandschaft stellten die städtisch-bürgerlichen Waisenhäuser und einzelne Erziehungsanstalten dar. Diese wurden ab den 1830er-Jahren durch Institutionen für Kinder mit speziellen Bedürfnissen ergänzt. Die Vereine mit Fremdplatzierungscharakter zählten ebenfalls zu den bereits um 1800 vorhandenen Typen, wuchsen jedoch bis 1860 nur sehr schwach an, ihre Zahl stieg erst ab den 1880er-Jahren kontinuierlich. Die interessanteste Entwicklung weisen die Tageshorte, -krippen und Kindergärten auf. Ihre Anzahl nimmt ab 1860 rasant zu und widerspiegelt nicht zuletzt ein neues «Angebot» im Fürsorgefächer, nämlich die zu Beginn städtische und nach und nach auch in ländlicheren Gegenden einsetzende «Tagesaufsicht». Wobei hier davon ausgegangen werden muss, dass die Anzahl Plätze in Kindergärten oder Anstalten sehr ungleich waren.
Interessant ist dieser Zuwachs insofern, als er nicht das Ende der Entwicklung von Anstalten oder auch Vereinen besiegelte. Nach wie vor schienen die steigenden Institutions- und Vereinsgründungen für die dauerhafte Fremdplatzierung einen erhöhten Bedarf wiederzugeben. Auch die nach 1900 eingesetzten Fremdplatzierungskontrollorgane (seien sie privater oder öffentlicher Natur) und die Amtsvormundschaften nahmen nach wie vor offenbar regen Gebrauch davon, ihre Mündel über die traditionellen Anstalten und Vereine zu platzieren.
Rationalisierung der Fürsorge
Die vorgestellten Überblickswerke über die schweizerische Fürsorgelandschaft sollten im Rahmen einer Bestandsaufnahme primär einen Einblick in die verschiedenen Facetten der Fremdplatzierung und deren Kontextualisierung in kantonale und regionale Rahmenbedingungen bieten. Zu bedenken gilt es, dass immer nur die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen der Unterschichten im Fokus stand, nie die längerfristige Platzierung vermögender Kinder beispielsweise in Internaten oder Landerziehungsheimen. Darüber hinaus waren die Werke sehr kontextgebunden, die ältesten entstanden im Vorfeld von Weltausstellungen und wurden von einer «freisinnigen» Schweiz initiiert, die von sich selbst das Bild eines modernen, zeitgenössischen und «humanen» Umgangs mit ihren armen Mitbürgern portieren wollte. Hierbei kamen die von katholisch-konservativen Kräften bereits früher oder insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts initiierten Einrichtungen oder Fonds ins Hintertreffen.102
Im Fokus standen dann auch meistens die auf Bürgerinitiative geschaffenen Vereine oder die neuen, modernen und humanitären Anstalten und