Ernst Guggisberg

Pflegekinder


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Prüfung und Genehmigung vor.17 Da die Aufgabenlast mit der steigenden Pflegekinderzahl für den Präsidenten immer mehr zunahm, wurde ihm auf Grundlage der Statuten vom 22. September 1897 der «Engere Vorstand» – bestehend aus dem Kantonalpräsidenten sowie zwei Vertretern aus dem Kantonalvorstand – zur Seite gestellt. Dieses Gremium galt als «das oberste, vollziehende, den Verein nach aussen vertretende Organ».18 Weitere Ämter des Kantonalvorstands waren der für das Protokoll und die Korrespondenz verantwortliche Schreiber sowie der mit der Rechnungsführung beauftragte Kantonalkassier.19

      «Zum Behufe einer zweckdienlichen Gliederung durch den ganzen Kanton bezeichnet der Kantonalvorstand in jeder Gemeinde einen Geschäftsführer, der die Wirksamkeit des Vereines in seiner Gemeinde nach einer vom Vorstande ihm übergebenen Instruktion zu vermitteln hat.»20 Dieser Passus umschrieb die für den Verein wichtige Rolle der Geschäftsführer (in den übrigen Armenerziehungsvereinen auch Gemeinderepräsentanten, 21 Bezüger22 oder Vertrauensmänner23 genannt) nur ansatzweise: Sie waren in den Gründungsjahren des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins unter anderem für die Bildung von Bezirkskommissionen verantwortlich, «deren Geschäftskreis ebenfalls durch eine Instruktion des Kantonalvorstandes näher bezeichnet wird».24 Darüber hinaus wurden ihnen in einem separaten Reglement folgende Aufgaben zugewiesen: die Beiwohnung der Bezirkskommissions-Versammlungen und die Umsetzung der «Aufträge des Kantonalvorstands mit möglichster Pünktlichkeit». Weiter sollten die Geschäftsführer in ihren Gemeinden zahlende Mitglieder rekrutieren, deren Beiträge einziehen und an den Kantonalkassier weiterleiten.25 Den Armenerziehungsvereinen auf Gemeindeebene angeschlossen waren im Fall von Basel-Landschaft die sogenannten Frauenvereine oder im Fall des Kantons Aargau die Fünfrappen- oder Halbbatzenvereine, 26 die Kollekten von Haus zu Haus einsammelten. Die wichtigste Tätigkeit der Geschäftsführer war allerdings die Führung eines Verzeichnisses, das einerseits potenzielle Pflegefamilien, andererseits aber auch sämtliche Kinder aufführe, «deren Recht auf Erziehung verkümmert ist, entweder weil sie Waisen sind, oder wegen Armuth oder Gleichgültigkeit der Eltern, und die in dem Verein eine Stütze nöthig haben», sowie «alle diejenigen auswärts wohnenden Kinder von Bürgern Ihrer Gemeinde», die «sich in gleicher Lage befinden».27 Sie sollten zudem über die Unterbringungsart (Anstalt oder Familie) für Kinder, die in die Obhut des Vereines überantwortet werden sollten, entscheiden. Vor einer «Platzierung» sollten sie allerdings versuchen, die Verhältnisse der Kinder durch «Ermahnungen und Zusprüche […] erfreulicher und würdiger» zu gestalten.28 Wo diese «Warnung» jedoch kein positives Resultat nach sich ziehen könne, solle das betreffende Kind der Bezirkskommission zur definitiven Aufnahme vorgeschlagen werden. Bei Übergabe des Kindes schlossen die Geschäftsführer im Einverständnis mit dem Bezirksvorstandspräsidenten Verträge mit der Gemeinde und der Pflegefamilie ab.29

      Den Geschäftsführern oblag dann die Beobachtung der Pflegeeltern und Kinder, die «im Stillen» stattzufinden hatte und die sie in einem «Notizenheft» verschriftlichen sollten.30 Doch nicht nur in die «Aufnahme», «Platzierung» und Inspektion waren sie involviert, auch für die Berufsbildung und weitere Obsorge wurden diese Gemeindevertreter in die Pflicht genommen: «nach jeder Konfirmation, haben Sie Ihre Vorsorge zu bethätigen, wie die jungen Leute ihre Berufsbildung erlangen können.»31 Die Geschäftsführer sollten dementsprechend die Auszubildenden begleiten und «entweder persönlich, oder durch ihre Pathen, den Gemeinderath, oder Ortspfarrer, oder durch eine zuverläsige [sic!] Person in der Gemeinde […] auf Vollendung ihrer Ausbildung einen günstigen Einfluss üben».32 Dass gemäss diesem Aufgabenheft die Geschäftsführer die Hauptstützen des Vereins verkörperten und im direkten – wohl nur allzu problemreichen – Austausch mit Pflegekindern, leiblichen Eltern, Pflegeeltern, Gemeindebehörden und Kirche standen, bemerkte der Vorstand mit den Worten:

      «Wir fühlen wohl, dass wir Ihnen [dem direkt angesprochenen Geschäftsführer] in obigen Punkten Pflichten auferlegen, die als eine Bürde erscheinen müssten, wenn sie nicht mit selbstverläugnender Samariterbarmherzigkeit und männlichem Muthe übernommen würden. Schwierigkeiten werden Ihnen entgegentreten, die nur mit Festigkeit und Weisheit werden zu besiegen sein […]. Ihnen zur Seite steht der Verein und dessen Mitglieder mit brüderlicher Liebe und schützender Hand; Ihnen zur Seite steht das Gesetz und dessen Vollziehungsbehörden; Ihnen zur Seite die Macht der öffentlichen Meinung; Ihnen zur Seite die Huld des Allerhöchsten […].»33

      Dem Kantonalvorstand und seinen Organen folgten die in einem separaten Reglement umschriebenen vier Bezirkskommissionen. Diese bestanden aus je einem Präsidenten, der neben zwei weiteren Vertretern der Kommission Einsitz in den Kantonalvorstand nahm und als Vermittler zwischen demselben, der Bezirkskommission und den Geschäftsführern fungierte. Des Weiteren gab es je einen Schreiber und je einen Rechnungsführer. Zusammen mit den Geschäftsführern des Bezirkes bildeten sie den Bezirksvorstand. Mindestens viermal im Jahr sollten Versammlungen abgehalten werden, wobei insbesondere der Informationsaustausch gepflegt und die «Platzierungen» besprochen werden sollten.34

      Mit der Ergänzung der bisherigen Organe durch das Inspektorat – womöglich zur Entlastung der Geschäftsführer – und um «Stetigkeit und Zusammenhang zu bringen», 35 erfolgte im Jahr 1875 eine notwendige Statutenanpassung: Der Inspektor wurde als ein «den andern Organen beigeordneter Mitarbeiter» bezeichnet «und wird, in steter Verbindung mit ihnen, als alleinigen Zweck seiner Thätigkeit die Förderung des Wohls der anvertrauten Kinder anstreben».36 In sein Aufgabenheft gehörte die Schliessung von Verträgen mit kommunalen Armenpflegen oder Privaten, und «er bestimmt zwei Wochentage zu Audienzen.»37 Der basellandschaftliche Inspektor war ein Vollzeitangestellter mit Arbeitsvertrag, der die hauptsächliche Überwachung der Pflegekinder unter Mithilfe der Geschäftsführer durchführte: «Der Verein übernimmt es, dem Inspektor zu seiner wirksamen Durchführung der Versorgungen bei den zuständigen Behörden die Wohlthat polizeilichen Schutzes auszuwirken, wie er durch Gesetz den Armenpflegen zugesichert ist.»38 Der Inspektor war dem Engen Vorstand Rechenschaft schuldig.39

      Dieses Modell kannte nur der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein. In den übrigen Vereinen übernahmen die Pflegeplatzkontrollen oder die zeitaufwendige Lehrstellensuche meistens die engsten Vorstandsmitglieder (Präsident, Vizepräsident, Aktuar und Kassier) oder wie im Fall des Armenerziehungsvereins Balsthal-Thal oder dem Armenerziehungsverein des Bezirks Baden ein erweiterter Vorstand als sogenannte Patronate.40 Diese übten ihre Aufgabe im Nebenamt aus und erhielten in den Statuten eine exakt umrissene Rolle, um den im Sektor der Berufsberatung unternommenen Professionalisierungsbestrebungen der öffentlichen Verwaltung (Lehrlingsämter) oder auch der Kirche (katholische Lehrlingsberatungsstellen) nicht nachzustehen.41 Besonders im Bereich der Aufsicht und Kontrolle über Pflegeplatzverhältnisse wurde die Mitarbeit von Frauen gefördert, beispielsweise als Inspektorinnen im Armenerziehungsverein des Bezirks Baden ab 1924.42

      Gründungskontexte und Kurzporträts Vereinsgeschichten

      In den vier Kantonen Basel-Landschaft, Aargau, Thurgau und Solothurn entstanden im Lauf des 19. Jahrhunderts 28 Armenerziehungsvereine. In diesem Kapitel soll kurz aufgezeigt werden, wie es dazu kam und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich feststellen lassen. Untersucht werden der Zeitraum vor und die wesentlichen Etappen nach der Vereinsgründung.

      Der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein

      Nach der Kantonstrennung im Jahr 1833 bestritt Basel-Landschaft die Ausgaben im Schul-, Kirchen- und Armenwesen aus dem ihm zugeflossenen Anteil aus der Vermögensausscheidung Basel-Stadts. Der Kanton unterhielt aus dem «Landarmengut» das Kantonsspital, alle übrigen armenfürsorgerischen Belange lagen in den Kompetenzen der Gemeinden. Vor der Kantonstrennung oblag das Armenwesen den Pfarrern. Diese traf aber der «Bannstrahl der Baselbieter Regierung», genauso wie die Dorfschullehrer, die als Freunde der Stadt galten.43 Die nach der Kantonstrennung eingesetzten Armenpflegen «verschwanden wieder. Rasch trat eine völlige Vernachlässigung des Armenwesens ein.»44 Die im Vergleich zu den Gemeinden schwache kantonale Regierung konnte auf