der Ortsbehörde und der Einwohnerschaft eingetreten». Durch den Einsatz des Geschäftsführers sei diese nun aber wieder besser. Die Beitragssammlung für das Jahr 1850 sollte aufgeschoben werden, denn «werden dann keine Kinder von irgendeiner Gemeinde untergebracht, oder verhältnismässig zu wenig, so wird die Einwohnerschaft missmuthig und verärgert die unterschriebenen Beiträge abzuliefern.»63 Kurz und gut, die zahlenden Bürger wollten, dass «ihre» Gemeindearmen «versorgt» würden, und hatten allem Anschein nach nur bedingtes Interesse, arme Bürger aus Nachbargemeinden bei sich aufzunehmen.
Der später in den Vereinen übliche Kostenteiler zwischen Verein und Gemeinde galt ursprünglich als Option und war nicht selbstverständlich. Zudem zeigten die frühen Kostgeldansätze, dass die Kinder einen Teil ihrer Kostgelder durch Arbeit zu entlöhnen hatten. Ein Pratteler Pfarrer sprach «seine Verwunderung darüber [aus], dass von den Gemeinden noch Beiträge gefordert werden sollen, denn er habe bis dahin immer geglaubt, der Verein nehme die Kinder ganz auf sich».64 Darauf erwiderte Regierungsrat Banga, dass «man vorerst nur den Gemeinden unter die Arme greifen wolle» und die Geschäftsführer die Unterstützungswürdigkeit der Kinder prüfen sollten, um «dann die Gemeinden um eine Unterstützung anzufragen».65 Eine ähnliche Unsicherheit betreffend die Kostenübernahme und die Ausgestaltung der Pflegeverhältnisse führte im Bezirksvorstand Waldenburg zur Praxis, dass Verträge «mit Gemeinden u. Pflegeanstalten» nur «dann Gültigkeit haben, wenn sie schriftlich abgefasst und von den betroffenen Partnern unterzeichnet sind. Die Verträge mit den Gemeinden sollen so vortheilhaft als möglich für den Verein, und die mit den Pflegeeltern so vortheilhaft als möglich für die Kinder abgeschlossen werden.»66 Die Kinder sollten «möglichst fern von ihrer Heimat» untergebracht werden. «Je grösser die Theilnahme ist, die man von den verschiedensten Seiten dem untergebrachten Kinde zuwendet, desto grösser ist die Aufmunterung für Kind und Pflegeeltern.»67
Der noch junge Armenerziehungsverein schien sich aber auch gegen ethische Vorbehalte seitens der Gemeinden verteidigen zu müssen. In seinem Jahresbericht über das Jahr 1851 hielt er denjenigen, «welche in dieser Art von Versorgung nichts anderes glauben erblicken zu sollen, als dies alte Mindersteigerungssystem», folgende Unterschiede zwischen der Fremdplatzierung durch den Verein und jener durch die Gemeinden vor Augen: «Die Gemeinde sieht die Versorgung des Kindes nach der gewöhnlichen Anschauungsweise als eine Last an, die ihr mit vielen andern Lasten aufgebürdet ist – der Verein aber als höchsten Zweck seiner Aufgabe.»68 Bei den Gemeinden würden sich Pflegeeltern direkt melden, der Verein suche sie aber, und «die Erfahrung lehrt, dass die empfehlenswerthen Familien wollen gesucht sein». Während die Gemeinde das Pflegekind «gewöhnlich im Orte selber» «platziere» und es «den Fleck, der auf seiner Armuth haftet, oder den Ruf seiner Eltern oder Familie, der gewöhnlich kein guter ist, mit sich herum» tragen müsse und oft höre, «wie viel es die Gemeinde koste», «platziere» der Armenerziehungsverein «seine Kinder gern von der Heimath entfernt unter», wobei dann die «ganz neuen Umgebungen, die Befreiung von schlimmer Nachrede, die neuen Kleider, mit welchen das Kind von der Übernahme an durch den Verein versehen wird», wie die bisher gemachten Erfahrungen zeige, «höchst wohlthätig auf dasselbe einwirken».69 Insbesondere bei der Beaufsichtigung unterscheide sich ein Pflegekind des Armenerziehungsvereins von einem der Gemeindebehörden:
«Um das von der Gemeinde untergebrachte Kind kümmert sich, hat man einmal einen Kostmeister für dasselbe gefunden, gar oft weiter Niemand, wenigstens nicht anhaltend und angelegentlich genug, und zahlreiche Beispiele lehren, dass es in der Vernachlässigung weit kommen darf, bis etwa einem pflichtvergessenen Pflegvater der Kostvertrag gekündet wird. Um das Kind dagegen, das der Verein zu übernehmen im Begriff ist, haben sich zu kümmern der Armeninspektor, der Präsident, dann der Geschäftsführer der Gemeinde, wo es untergebracht worden.»70
Diese dreifache Aufsicht habe zur Folge, dass das Kind eine «Wichtigkeit» erhalte, «die namentlich bei den Pflegeeltern erwünschten Eindruck macht». Diese wüssten, «das Kind ist nicht verlassen und unsere Behandlung bleibt nicht unbeobachtet. Sie fühlen, dass bei der Pflege nicht nur ein Kostgeld zu erwerben sei, sondern auch das Lob guter Erziehung.» Auf dieselbe Weise argumentierte der Verein auch bezüglich seiner Pflegeplatzwahl, die er nicht zum Vorteil der Vereinskasse suche, sondern «vor Allem das Wohl des Kindes» im Auge behalte – während die Gemeinden «ihre Kinder häufig dem Mindestfordernden» anvertrauten. Auch bei der Dauer der Platzierung bestünde ein Unterschied, die Gemeinde bringe ihre Kinder «gewöhnlich nur auf ein Jahr» unter, während der Verein «sie gerne auf eine längere Reihe von Jahren» fremdplatziere, «was für Kinder und Pflegeeltern vorteilhaft ist». Die Beaufsichtigung und Vereinsunterstützung ende auch nicht mit der Erwerbsfähigkeit der Kinder, wie es bei den Gemeinden geschehe: «Die Gemeinde wünscht der Last der Erziehung so bald als möglich entledigt zu sein und glaubt sich der Pflicht gegen das Kind enthoben, sobald es sich sein Brod verdienen kann, möge das nun geschehen, wie es wolle.» Der Verein aber mache «seinen Einfluss auf die Wahl des Berufes seiner Pfleglinge geltend und gedenkt denselben auch im fortschreitenden Jünglings- und Jungfrauenalter der Pfleglinge nicht ganz aufzugeben».71 Somit steuerte oftmals «gesetzliche Nöthigung und kalte Berechnung» die Fremdplatzierung der Gemeinden, während im Verein «freier Wille und aufopfernde Liebe» vorherrsche.72
Mit diesen drei Jahre nach Vereinsgründung vorgestellten philanthropischen Grundsätzen zeigt der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein eine klare konzeptuelle Gegenposition zur kommunalen Fremdplatzierungspraxis auf: Die langfristige «Platzierung» bei denselben Pflegeeltern unter Vereinsaufsicht, der Ortswechsel sowie die Hilfestellung zur Berufsausbildung. Die Argumentation – bis auf das Liebeswerk im Fazit – ist mehrheitlich frei von Pathos und zeugt von einem reflektierten Umgang mit der vereinsgetragenen Fremdplatzierung, die ihre Daseinsberechtigung dezidiert in einen Kontrast zu den Gemeindeplatzierungen stellt.
Zwei weitere Desiderate konnten 1853/54 vom jungen Verein umgesetzt werden: die Institutionalisierung der Inspektion sowie die Gründung einer eigenen Anstalt. Ersteres wurde durch den gebürtigen Martin Grieder, der 1853 von der vermögenden Juliane Birmann-Vischer (gestorben 1859) adoptiert wurde, erreicht. Er arbeitete als Armeninspektor ehrenamtlich bis 1888 für den Armenerziehungsverein. In den Augen des Kantonalvorstands war er deshalb bestens für die Stelle geeignet, weil für ihn «die drohenden Schäden der Gesellschaft – Armennoth und Sittennoth – nicht aus Büchern gelernte Begriffe, sondern angeschaute Thatsachen sind».73 Als eine seiner ersten Tätigkeiten reiste Birmann «mit einem Empfehlungsschreiben von Präsident Banga» durch den Kanton und erarbeitete einen Bericht über das basellandschaftliche Armenwesen, «worauf ihm zur Akkreditierung in den Gemeinden der Regierungsrath den Titel eines Armeninspektors, einen Timbre und die beim Bundesrathe ausgewirkte Portofreiheit zutheilte.»74 Das zweite Desiderat des Kantonalvorstands, die Gründung einer eigenen Knabenerziehungsanstalt, wurde in Form der Rettungsanstalt Augst (ab 1909 im Schillingsrain in Liestal)75 für «verwahrloste Knaben» realisiert, die am 3. Oktober 1853 ihren Betrieb aufnahm (siehe Abbildung 6). Eine Zusammenarbeit entstand zuvor mit der 1852 gegründeten «Richter-Linder’schen Anstalt für Mädchen» in Basel.76
Der Armenerziehungsverein schloss mit Richter-Linder die Übereinkunft, dass reformierte Mädchen zwischen zwölf und 15 Jahren – sofern sie sich drei Jahre verpflichteten – in die Anstalt aufgenommen würden. Dort erhielten sie eine Einführung durch den Werkmeister in die Seidenarbeit und durch je eine Hausfrau und eine Näherin eine Einführung in die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. «Dabei sollen die Kinder durch den Hausvater den in Baselland üblichen Repetirschul- und durch Hrn. Pfarrer Seiler den Religionsunterricht empfangen nebst der Konfirmation. Ein Arzt steht der Anstalt zur Seite und macht regelmässig Besuche.»77 Die Erfahrungen mit den platzierten Mädchen seien «grösstentheils erfreulicher Art», und die Mädchen seien aus dem Zustand «der Verwahrlosung an Leib und Seele» befreit worden.78
1858 hielt der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein für einen Moment inne und blickte auf seine Tätigkeit zurück. «Was der Verein vor zehn Jahren sich zum Zwecke gesetzt: gegenüber vielfacher Willkür zu arbeiten für die Kenntniss und für die Praxis einer humanen, einer christlichen Armenpflege, das ist zum grossen Theile in Erfüllung gegangen, und wir