Zusammenarbeit zwischen Verein und Behörden existiere; sei es mit der Regierung, mit den Statthaltern oder auch mit den Gemeindevorstehern. In diesem Zusammenhang wurde angemerkt, dass «wir […] in der Mindersteigerung vom vorjährigen August hoffentlich die letzte gesehen [haben]. Wenigstens sind wir soweit gekommen, dass gegen das Vorkommen solchen Unfuges die öffentliche Meinung sich empört.»80
Der Vorstand bemerkte ferner, dass er vom Volk unterstützt werde, und dies sei nicht zuletzt an den steigenden Zuwendungen in der Vereinskasse spürbar. Damit einhergehend wird auch die Arbeit mit den verschiedenen Frauenvereinen positiv erwähnt, «bei dieser Verbindung der verschiedenen Vereine und Bestrebungen» handle es sich aber «nicht um eine Verschmelzung, sondern um eine Wechselwirkung, eine freundliche Theilung der Arbeit, eine gegenseitige Unterstützung in Rath und Trost, Hülfe und fröhlichem Wetteifer».81 Als Grundsatz hielt der Armenerziehungsverein auch nach der Gründung seiner eigenen Anstalt an der präferierten Familienerziehung fest: «Diese bewegt sich im Ganzen in stetiger Weise mit denselben Sorgen und Erfahrungen: Gemeinden, Eltern und Wohlthäter melden sich mit Kindern; Pflegeeltern bewerben sich um Pfleglinge, es gibt Nachfragen und Erkundigungen allerorten.»82
Eine wichtige Zäsur in der Vereinsgeschichte bildete die Übergabe des Inspektorats von Martin Birmann an Emil Gysin im Jahr 1874. Lehrer Gysin reiste schon vor seiner Berufung zum Inspektor freiwillig im Kanton umher und kontrollierte die Pflegeplatzverhältnisse, sodass «sein durchgreifendes und unermüdliches Verfahren […] in den etwas monoton gewordenen Gang des Vereins einen neuen Schwung» brachte. Die Bezirksvorstände wünschten, dass «dieses konsequente, persönliche Überwachen aller Thätigkeit des Vereins demselben gewahrt bleiben und dafür geradezu eine besoldete Stelle geschaffen werden möchte, wie sie der rheinische Armenerziehungsverein von Anfang an aufgestellt hat».83 Die Erhöhung des Staatsbeitrags für den Armenerziehungsverein auf 2000 Franken ermöglichte es, dass Gysin entlöhnt werden konnte.84
Abbildung 6: Vignette der Anstalt bei Augst, um 1858
Abbildung 7–10: Aufnahmen von Knaben des Schillingsrains, um 1911
Mit der Schaffung des Inspektorats als Vollzeitstelle wurde die Frage aufgeworfen, ob die Bezirksvorstände nun überhaupt noch ihre Daseinsberechtigung hätten. Es sei mehrfach vorgekommen, dass Pflegekinder von Martin Birmann, Emil Gysin oder den Bezirksvorständen «versorgt» worden und es so zu «Unregelmässigkeiten» gekommen sei. Ein Vorstandsmitglied stellte die Frage in den Raum, ob nicht ein «Kantonalbeamter» die «Beaufsichtigung u. Versorgung sämtlicher Kinder im Kanton» übernehmen könne. Auf dieses Votum entgegnete Martin Birmann, dass er 1852 zum Armeninspektor gewählt worden sei und «bis 1859 all den vielen Geschäften, die das Amt ihm gebracht», hätte nachkommen können. Seit der Gründung eines eigenen Hausstandes sei es ihm aber nicht mehr möglich gewesen, die Versorgung aller Kinder zu beaufsichtigen. Auch nach der Ernennung von Gysin zum Inspektor seien die Bezirksvorstände «nicht als überflüssig abzuthun»:85
«Denn für die Sache des Vereins brauche es Geld u. persönliche Arbeit, durch letztere erwache die Liebe zur Sache; diese aber wird rege erhalten dadurch, dass man die Geschichte der zu versorgenden u. die versorgten Kinder wisse, die Geschichte derselben wird in der Bezirksversammlung besprochen, diese dürfen deswegen nicht aufhören.»86
Nach Birmanns Auffassung würde das «neue Inspektorat» die Bezirksvorstände untereinander vereinigen, Gysin müsse an den Beratungen teilnehmen und die Beschlüsse dann ausführen. «H[err]. Gysin ist gleichsam der Arm des Vereins: es ist wohl der 4te Theil der Kinder im Kanton in andern Familien untergebracht; u. diese Menge zu überwachen, erfordert Zeit u. Mühe.»87 Je mehr Mitglieder in die Arbeit des Vereins involviert würden, «desto reichlicher werden auch die Gaben sein». Dies habe auch die «energisch und mit Liebe an die Hand» genommene «Versorgung» von Kindern durch Gysin gezeigt. Dieser konstatierte, dass «die Geschäftsführer […] seit er herumwandere, auch viel mehr arbeiten; auch er stimmt dafür, dass die Bez. Vorstände bleiben sollen.»88
Mit Gysin als vollberuflichem Inspektor besserte sich eingangs das Verhältnis zu den Gemeinden, die die «Bestrebungen des Vereins mehr u[nd] mehr» anerkannten und ihm «je länger je mehr ergänzend zur Seite» stünden.89 Auch das Verhältnis zu den kantonalen Behörden und namentlich der Regierung wurde als ein sehr gutes bezeichnet, so «dass bei allen Wandlungen der zum Regiment gelangenden Parteien noch jede Regierung und jeder Landrath zum Vereine eine freundliche Stellung eingenommen hat. Es hält derselbe auch darauf, dass der Regierungsrath in seinen Vorstand ein Mitglied wählt und noch jeweilen ist es die Person des Erziehungsdirektors gewesen.»90 Im Jahr 1878 wurden die Statuten angepasst, 91 um so das Arbeitsfeld des Inspektors besser einzubringen, dazu gehörte auch, «in unermüdlicher Treue […] ein Armenhaus der Gemeinden ums andere und damit manche Pflanzstätte des Verkommens aufzuheben».92
In den 1890er-Jahren scheint sich das Verhältnis zu den Gemeinden aber negativ verändert zu haben. In den Jahresberichten zeigt sich, dass die Selbstverständlichkeit des Wirkens früherer Jahre auch von Seiten leiblicher Eltern immer mehr in Frage gestellt wurde. Die Eltern, «denen die Kinder durch Staatsgewalt entzogen, denen das Erziehungsrecht genommen worden, sie betrachten das Eingreifen des Armenerziehungsvereins nicht als eine Hülfe, sondern als einen Eingriff in ihr Elternrecht».93 Der Armeninspektor wurde als Eindringling und nicht als «wohlmeinender Freund, sondern als Feind, wenn nicht gar als Räuber ihrer Kinder angeschaut».94 Zugleich lasse die Unterstützung der kommunalen Armenpflegen zu wünschen übrig, indem sich diese «durch allerlei Vorspiegelungen oder durch Verläumdungen des Pfleghauses täuschen» liessen und somit die Entscheide des Inspektors massgeblich untergruben.95 Hier kam erneut die «Emanzipation» der Eltern zum Ausdruck, die dezidiert und unter Verwendung der ihnen möglichen Rechts- und Druckmittel gegen die mögliche Wegnahme ihrer Kinder Beschwerde einlegten. Einer der Gründe, so führte der Vorstand an, sei die Vorspiegelung der Tatsache, dass die Armenpflegen, «bloss um der Pflicht der Familienunterstützung auszuweichen, es vorziehen, die Kinder dem Armenerziehungsverein um die Hälfte der Kosten zu übergeben und zu diesem Zwecke den Entzug des Erziehungsrechtes beantragen».96
Diese Beschuldigung war insofern interessant und wegweisend, als sie zwei Konzepte gegenüberstellte: die familieninterne Fürsorge, wobei die Armenpflege für die gesamte Unterstützungssumme alleine aufkommen musste, und die Fremdplatzierung in einer Pflegefamilie oder Anstalt, wobei sich der Armenerziehungsverein statutengemäss beteiligte. Die leiblichen Eltern kämpften für eine Familienunterstützung und wehrten sich gegen die Wegnahme ihrer Kinder, weil diese mit dem Aufkommen einer Variante nicht mehr als einzige Lösung galt. Die Frage um die Beschwerdeführung von Eltern und das neue Konzept der Familienfürsorge innerhalb der eigenen Familie schlug sogar auf Ebene der Kantonsregierung Wellen, sodass von dieser Seite beim Kantonalvorstand des Armenerziehungsvereins beantragt wurde:
«Wenn einer Witwe, die nur annähernd Garantie für richtige Erziehung der Kinder bietet, der Regierungsrat das Kindererziehungsrecht nicht entzieht, soll der Armenerziehungsverein der Mutter die Erziehung der Kinder überlassen und ihr die entsprechenden Beiträge zuerkennen, die der Verein leisten würde, wenn er die Kinder bei Pflegeltern untergebracht hätte. Dem Verein steht auch in diesem Falle das Aufsichtsrecht zu.»97
Die Armenerziehungsvereine verstanden sich ausdrücklich nicht als Unterstützungsvereine, sondern als Erziehungsvereine mit dem statutengemässen Auftrag, die Kinder zu diesem Zweck fremdzuplatzieren. Der Vorstand antwortete auf dieses Postulat, dass es selbstverständlich