in der Aufsicht über die Verpflegten» und hielt es nicht für notwendig, eine Spezialkommission zur weiteren Beratung zu ernennen, sondern die Direktionskommission einzuladen, nötigenfalls in einer ausserordentlichen Versammlung einen Entwurf über Gründung und Organisation eines diesbezüglichen Vereins auszuarbeiten. Ein weiteres Mitglied schlug vor, sich zuerst mit den Kirchenvorsteherschaften abzusprechen und in ihnen eine finanzielle Stütze für den zu gründenden Verein zu suchen.160 Danach beschloss die Direktionskommission, die vom Pfarrer aufgestellten Schlussfolgerungen als für sie selbst verbindlich zu erachten und weiter voranzubringen.161 Rehsteiner wurde mit der provisorischen Schaffung von Statuten beauftragt.162 Im ersten Statutenentwurf hielt er unter anderem fest, dass der Verein «die gesetzlichen Armenbehörden in ihrer Obsorge für die Jugend» unterstützen und ergänzen wolle.163
Rehsteiner nahm den zu gründenden Armenerziehungsverein als reine Ergänzungsleistung der offiziellen Armenbehörden in finanzieller und organisatorischer Hinsicht wahr und verortete ihn konzeptionell eher bei den allgemeinen Armenvereinen.164 Dass er sich jedoch ganz klar an den bestehenden Armenerziehungsvereinen in anderen Kantonen orientierte, verriet der zweite Paragraf, nach dem die Aufgabe des Vereins darin bestehe, «arme u[nd] überhaupt hilfsbedürftige Kinder in guten Pflegefamilien & Anstalten [zu versorgen]» und «im reifen Jugendalter mit Anleitung & Aufsicht zu weiterem gedeihlichen Fortkommen der Schützlinge» beizutragen.165 Organisatorisch siedelte Rehsteiner den neuen Verein direkt bei der Thurgauischen Gemeinnützigen Gesellschaft an, die bei ihren Versammlungen jeweils alle drei Jahre einen kantonalen Vorstand bestehend aus fünf Mitgliedern bestimmen sollte.166 Dieser organisatorische Schulterschluss – wie er beispielsweise bei den Armenerziehungsvereinen Zofingen oder Muri zustande kam – wurde von der Direktionskommission der Gemeinnützigen Gesellschaft in der paragrafenweisen Diskussion der provisorischen Statuten fallengelassen, sodass der Armenerziehungsverein den Status einer autonomen Organisation erhielt.167 Um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, erhielt Rehsteiner die Möglichkeit, in der periodisch erscheinenden «Zeitschrift für Gemeinnützigkeit. Organ der thurg. Gemeinnütz. Gesellschaft» einen Artikel zu platzieren.168 Mit dem Titel «Die Frage betref. die Gründung eines Armenerziehungsvereins im Kanton Thurgau»169 griff er zuerst sein Referat vom 20. Juni 1881 auf, um dann das Folgereferat an der Jahresversammlung in Romanshorn vom 26. Juni 1882 in vier Punkten zusammenzufassen.170
Als Erstes formulierte Rehsteiner die Frage: «Was ist auf dem Gebiete der Armenerziehung geleistet worden?» Hier verwies er auf den ersten Armenerziehungsverein im Kanton Basel-Landschaft, der einen ersten «Versuch» tätigte, «dem Pauperismus durch einen erzieherisch wirkenden Verein abzuhelfen».171 Er ging weiter auf dessen Organisation ein und stellte fest, dass es einen grossen Kantonalvorstand mit Vertretern in allen vier Bezirken und zwei Geschäftsführer pro Gemeinde gebe. «Die Haupttätigkeit aber wurde dem Armeninspektorate überbunden, das bei stets wachsenden Geschäften 1874 zur besoldeten Stelle erhoben wurde.»172 Dann ging er auf die neun bestehenden Armenerziehungsvereine im Kanton Aargau ein, 173 «welche trefflich organisirt, sich fast in alle Gemeinden erstrecken».174
Diese Situationsanalyse mündete in die Frage: «Bedarf auch der Kanton Thurgau eines Armenerziehungsvereins?» Rehsteiner resümierte, dass der Thurgau keine Grossstädte mit ihren Schattenseiten kenne, doch gebe es «Ansätze zu Städten». Und so verirre sich auch die Thurgauer Jugend «in libertinistische Gedanken und Thaten». Auch hier gebe es «überall flottante Bevölkerung und eine grosse Zahl von Eltern können wegen Gebundenheit an ihre Arbeitsstätten ihre Kinder fast nie überwachen». Dies führe zu lauten Klagen über die «zunehmende Zuchtlosigkeit der Jugend und mit Recht». Rehsteiners Ausführung über die negativen Seiten der Industrialisierung und drohenden Pauperisierung leiten in die Feststellung über, dass man prophylaktisch handeln müsse: «Will man nicht progressiv steigende Armensteuern, zunehmenden Wirthshausbesuch und Übervölkerung der Armen-, Irren- und Strafhäuser, so muss man vorbauen mit vermehrter Obsorge über die verwahrloste und vernachlässigte Jugend.»175 Die Ursache der «Verwahrlosung» liege seiner Meinung nach bei der Arbeitsbelastung beider Elternteile. Die gesetzlichen Armenpflegen seien zur Bewältigung dieser Aufgabe ungenügend, «weil sie zu viel mit Kassa-Defiziten und anderen hemmenden Faktoren rechnen müssen, weil es ihnen an Korrespondenten auswärts fehlt und sie selbst zu wenig kontrolirt sind». Der Dreh- und Angelpunkt bei der prophylaktischen Armenfürsorge wäre somit «Die freie Liebestätigkeit», sie «allein kann diesen Mangel ersetzen. Sie mildert die Härte des bisherigen Bürgerprinzipes, knüpft dauernde Bande zwischen den Vereinen oder Schützlingen und öffnet den Kern dankbarer Anhänglichkeit. Sie ist am Besten im Stande richtig zu entscheiden, welche Kinder in Anstalten, welche in Familien zu unterbringen sind und findet mit ihrem Appell an die Humanität offene Thore für ihre Pfleglinge.»176
Als dritte Frage formulierte Rehsteiner: «Welches sind die Aufgaben eines solchen Erziehungsvereins?» Seiner philanthropischen Auffassung nach müssten die Armen «mit bleibenden Reichthümern» ausgestattet werden. Ein solcher Verein hebe allein durch die Tatsache, dass er bestünde, «das solidarische Interesse», richte das Augenmerk seiner Mitglieder auf Missstände und fördere den Dialog: «Der Verein setzt sich den Zweck, zunächst durch Belehrung der in erster Linie pflichtigen Erzieher die Lage und Erziehung der Kinder zu verbessern, sodann aber sorgt er selbst, soviel in seinen Kräften liegt, für gehörige leibliche und geistige Pflege und Rettung aus der Gefahr der Verwahrlosung.»177 Diese «Rettung» geschehe über Familien oder Anstaltsversorgung und im gegebenen Fall auch durch Berufsausbildung, in jedem Fall «durch fleissige Inspektion überwacht». Um sich dieser schwierigen Aufgabe zu stellen, sei es eventuell auch dienlich, sich «Anfänglich […] nur der leitsamen Kinder an[zu]nehmen, die Widerspenstigen aber den mit genügenden Kompetenzen ausgerüsteten Armenpflegschaften [zu] überlassen». Als mittelfristiges Ziel setzte er die Initiative zu einem neuen Armengesetz in Aussicht, «einmal in der Richtung, dass auch solcher Vereinsarbeit staatliche Subsidien und polizeiliche Befugnisse zugewendet würden und zugleich in der andern Richtung, dass das Gesetz dann überall, auch über alle von Behörden versorgten Kinder eine regelmässige Inspektion anordnete». Schliesslich befand Rehsteiner als eine der Hauptaufgaben, dass der Verein «ein solch entschiedenes Zutrauen» erwerbe, dass er auch bei steigenden Ausgaben und Anforderungen immer «aus freier Hand die Mittel erhielte, seine Aufgaben zu erfüllen».178
Als letzten Punkt hielt er «Die Mittel zur Durchführung dieser Aufgaben» fest. In organisatorischer Hinsicht wünschte sich Rehsteiner, dass der Verein sich über das gesamte Kantonsgebiet erstrecke. In wirtschaftlicher Hinsicht schlug er einen jährlichen Mitgliederbeitrag vor und zählte darüber hinaus auf Legate und Geschenke, und zuletzt «dürfe nach bestandener Probezeit der Staat um Beiträge ersucht werden».179 Seinen Artikel liess Rehsteiner mit folgendem Schlussantrag enden: «Überzeugt von der Wichtigkeit gehöriger Armenerziehung will die gemeinnützige Gesellschaft diesem Werke ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden, sie wird die freie Liebes- und Vereinsthätigkeit nach dieser Richtung anzuregen bemüht sein und als Ziel die Gründung eines Armenerziehungsvereins in unserm Kantone anstreben.»180
Darüber hinaus wurde vereinbart, dass die Direktionskommission in einer kommenden Versammlung einen Entwurf über Gründung und Organisation eines thurgauischen Armenerziehungsvereins ausarbeiten würde. Als Startkapital stiftete die Gesellschaft 1600 Franken, die ursprünglich einer «Anstalt für jugendliche Verbrecher» zugedacht waren.181 In einer ausserordentlichen Sitzung vom 30. Oktober 1882 besprach der Vorstand der Gemeinnützigen Gesellschaft den Statutenentwurf. Insbesondere wurde die organisatorische Verstrickung zwischen dem Armenerziehungsverein und der Gemeinnützigen Gesellschaft beanstandet: «Entweder müsse der neue Verein ganz selbständig constituirt oder der gem.[einnützigen] Gesell.[schaft] ganz untergeordnet werden.»182
Der reformierte Pfarrer Johann Jakob Christinger (1836–1910) schlug vor, für die ersten drei Jahre einen Kantonalvorstand bestehend aus fünf Mitgliedern der Gemeinnützigen Gesellschaft zu ernennen. Von diesem Vorstand würden in jedem Bezirk Korrespondenten gesucht. «Nach der Konstituierung & Bestellung des ersten Vorstandes geht die Aufsicht über die Vereinsthätigkeit, die Erneuerungswahl des Vorstandes &