Ernst Guggisberg

Pflegekinder


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oder Schutzaufseher bestellt» werden, «an den sich Pflegeeltern und Kinder wenden können, und der uns Bericht erstattet».184 In diesem Sinn wurde die Gründung des Thurgauischen Armenerziehungsvereins gutgeheissen und Rehsteiner zum ersten Präsidenten gewählt.

      Mit einem Inserat suchte Theodor Rehsteiner im folgenden Jahr 1883 seine Pflegefamilien – und nutzte dabei dasselbe Medium wie die Armenpflegen, wobei er sein Inserat nur in der «Zeitung für Gemeinnützigkeit und Armenerziehung» veröffentlichte und in keinem der anderen Thurgauer Blätter – und wollte somit wohl eine eher philanthropisch-karitative Leserschaft erreichen (siehe Abbildung 11). Aus den Antworten erstellte der Vorstand ein «Adressheft für künftige Versorgungen».185 Dies war angesichts der steigenden Pflegekinderzahlen auch notwendig: Waren 1883 noch vier Knaben und zwei Mädchen in Vereinsobhut, so standen im Jahr 1887 bereits 43 Knaben und 32 Mädchen, also insgesamt 75 Kinder, unter dem Patronat.186

      Für die Kinder wurden durchschnittlich 50 Franken pro Jahr an Kostgeld bezahlt, die «Unterbringung» in Anstalten belief sich auf durchschnittliche 100 Franken.187 Den Fokus setzte der Armenerziehungsverein in den ersten Jahren nach der Gründung insbesondere auf die Ausformung des Patronats, des Inspektionsorgans über die Pflegefamilien und -kinder: «Es ist nicht nur nöthig für unsere Kommission, eine Vermittlung zu haben in einem Korrespondenten an Ort und Stelle, es ist für die Pflegefamilien und versorgten Kinder von entscheidendem Werth und Einfluss, dass ein Berather und Schutzaufseher in der Nähe jedes versorgten Kindes sei.»188 Dem Verein war es ein Anliegen, dass «vertrauensvolle Mittheilungen» zwischen Patronen und Pflegeeltern ausgetauscht werden könnten und insbesondere dass das Kind «das wohlthuende Gefühl [erhält], dass man allseitig sich seiner annehme und ihm Gelegenheit bieten wolle, in der Nähe auch seine Anliegen anzubringen».189 Die Patronatsberichte sollten jährlich dem Vorstand unterbreitet werden, wobei dies nicht immer zur vollen Zufriedenheit und in der geforderten Regelmässigkeit geschah. Bereits 1893 wurde auf ein Zweijahresintervall gewechselt.190 Neben den Patronen fiel auch den Lehrern eine gewisse Aufsichtsfunktion zu, «denn der Lehrer weiss am Besten, wie es mit dem Kinde selbst und mit der Pflege, Bekleidung und Leitung des Kindes steht».191

      Der Verein strebte eine Versetzung insbesondere bei Pflegefamilien an, wo das «ökonomische Interesse das leitende Motiv» sei. Das Pflegekinderwesen sei kein Nebenerwerb für finanziell schwach gestellte Familien, sondern eine Chance zur Erziehung von Pflegekindern und zur Ausübung christlicher Nächstenliebe. Die Erziehung konnte nach Vorstandsmeinung nur über einen langfristigen, kontinuierlichen Aufenthalt in einer Pflegefamilie geschehen, so war es üblich, «so viel als möglich der Versorgung vorgängig» zu erkunden. «Aber wie ein Kind im Ganzen versorgt ist und wie es nach jeder Richtung behandelt und geleitet wird, dies kann man doch erst durch die Probe selbst genügend erfahren.»192 Deshalb verfolge der Verein auch die Strategie, Pflegekinder bei «schon erprobten Pflegefamilien wiederholt» unterzubringen. «Wir bestreben uns […] auch besonders, die Geschwister wo immer möglich nahe beieinander zu belassen, damit sie sich nicht ganz fremd werden.»193

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      Abbildung 11: Zeitung für Gemeinnützigkeit und Armenerziehung, 2. Jg., Nr. 15, 31. 5. 1883, S. 4

      Dass der Vorstand von vornherein schon auf gute und erfahrene Pflegefamilien zurückgreifen konnte, erklärte sich dieser aus dem Umstand heraus, dass im Kanton «die Armenpflegschaften schon immer Kinder bei Familien versorgt haben» und sich somit «eine ziemliche Zahl zuverlässiger Pflegeeltern» finden liesse.194 Dass aber nach wie vor das Pflegekinderwesen als Nebenerwerb seine Stellung im Kanton Thurgau hatte, verdeutlichte eine abermalige Erwähnung im sechsten Jahresbericht: «Natürlich fällt die Wahl nicht sowohl auf solche Häuser, die das Halten fremder Kinder zu einem Geschäft und Erwerb zu machen geeignet sind; freilich kann man sagen, dies sei eigentlich genau berechnet, bei den im Lande üblichen sehr mässigen Kostgeldern, wirklich kaum möglich.»195 Der Vorstand bemerkte, dass die Pflegeeltern «auf ihren festen Takt und ihr gutes Vorbild, auf Herzen mit Geduld und Liebe auch gegenüber fremden Kindern, das Hauptaugenmerk richte» und dabei «auch auf genügende Ernährung, ordentliche Bekleidung, Gewöhnung zu Arbeitsamkeit, Ordnungssinn, Reinlichkeit usw. sehe».196

      1901 wechselte der Vereinssitz mit der Demission der bisherigen Kommission von Güttingen nach Stettfurt.197 1905 stellte der Vereinspräsident Eduard Schuster in der Zeitschrift für schweizerische Statistik den «Armenerziehungsverein im Kanton Thurgau» vor.198 Er bemerkte, dass seit Vereinsgründung insgesamt 516 Pflegekinder vom Verein «patroniert» wurden und dass 64 Prozent im Durchschnittsalter von fünf bis zwölf Jahren waren, 32 Prozent über zwölf Jahren und 4 Prozent unter fünf Jahren. 62 Prozent der Kinder seien männlich und nur 38 Prozent weiblich, da «Mädchen […] eher freiwillige Aufnahme in Familien von Verwandten und Bekannten» fänden und im allgemeinen «weniger Erziehungsschwierigkeiten» böten als Knaben. Schuster erwähnte weder die konfessionelle Armenunterstützung als Hauptprinzip des thurgauischen Armenwesens (er sprach lediglich vom Heimatortprinzip), noch gab er Einblick, wie viele der Pflegekinder der protestantischen oder katholischen Konfession angehörten. Anlässlich der Volkszählung von 1910 wurde im Kanton Thurgau eine Pflegekinderanzahl von 1605 festgestellt (unter 14 Jahren), was 3,9 Prozent aller Kinder im Kanton ausmachte. Davon würden 200 durch den Armenerziehungsverein und «eine höchstens dreifache Zahl durch Armenbehörden je nach persönlicher Neigung oder Eignung des Armenpflegers versorgt und kontrolliert», 199 sodass rund die Hälfte aller fremdplatzierten Kinder ohne behördliches Mitwissen oder Kontrolle fremdplatziert würden.

      Unter dem 25. April 1911 wurde das Gesetz betreffend die Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches im Thurgau rechtskräftig. Im Abschnitt Familienrecht bezeichnete es als zuständige Vormundschaftsbehörde die bestehenden Waisenämter der wohnörtlichen Munizipalgemeinde der zu bevormundenden Personen.200 Der Vorstand bemerkte zur neuen Ausgangslage, dass die Kirchenvorsteherschaften oftmals vergässen, dass nicht mehr das Thurgauische, sondern neu das Schweizerische Zivilgesetzbuch gelte, in dem nicht nur vermögende Kinder einen Vormund erhielten, sondern «jedes elternlose Kind». Nach dem Thurgauischen Zivilgesetzbuch «übernahm bei Unfähigkeit der Eltern, die Kinder zu erziehen, gewöhnlich ohne formellen Beschluss» die «Kirchenvorsteherschaft die elterlichen Rechte und Pflichten gemäss dem Grundsatze: ‹Wer bezahlt, der befiehlt auch›».201 In der Bestrebung, das Vormundschaftswesen zu professionalisieren, war ab Einführung des Zivilgesetzbuches auch die Schaffung von Amtsvormündern reges Thema im Vereinsvorstand. Erstmals übergab im Jahr 1920 ein Amtsvormund dem Armenerziehungsverein ein Pflegekind zur «Patronierung».202 Der Präsident hielt fest, «dass man in den Bezirken Arbon u. Frauenfeld u. in Kreuzlingen-Steckborn, wo Amtsvormundschaftsstellen eingerichtet worden sind, mit denselben gute Erfahrungen gemacht habe».203 Amtsvormundschaften bestanden im Bezirk Arbon seit 1917, in der Stadt Kreuzlingen ab 1918, in Frauenfeld ab 1920, in Weinfelden ab 1928 und in Amriswil ab 1930.204

      Dass der Kontakt zwischen dem Verein und den Amtsvormundschaften gesucht wurde, beweist auch die Tatsache, dass der Generalvormund von Frauenfeld an den Vereinssitzungen zugegen war: «Seine Erfahrungen zeigen, dass das alte Vorurteil, als handele es sich bei der Vormundschaft immer nur um Schutz des Vermögens u. materieller Interessen, noch sehr eingewurzelt ist. Der Präsident teilt ferner mit, dass jetzt, 9 Jahre nach Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches noch immer Kinder angemeldet werden – Waisen oder solche, deren Eltern die elterliche Gewalt entzogen ist – die keinen Vormund haben, oder weil kein Vermögen vorhanden ist. Es muss immer wieder betont werden, dass gerade verlassene Kinder, die vermögenslos sind, erst recht eines Vormundes bedürfen, der ihnen mit Rat u. Tat beisteht.»205

      Die Bestrebung, das Pflegekinderwesen im Kanton Thurgau zu professionalisieren, ging aber in erster Linie nicht vom Armenerziehungsverein, sondern vom 1926 gegründeten «Bund Thurgauischer Frauenvereine» aus. Bereits ein Jahr nach dessen Konstituierung, setzte sich der mehrheitlich protestantisch ausgerichtete Bund – als Gegenpol zum «Thurgauischen Katholischen Frauenbund» – mit der Kontrolle des thurgauischen Pflegekinderwesens auseinander. Die damalige Präsidentin, Isabella Staehelin