Ernst Guggisberg

Pflegekinder


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Kosten ein sicheres Material zu erhalten für Eingaben an die Behörden».206

      Am 23. Januar 1929 hielt der Bund unter Einladung aller interessierten Kreise – auch in Anwesenheit Regierungsrats Paul Altwegg (1884–1952) – eine erste Zusammenkunft ab. Die Sekretärin des Thurgauer Frauenbundes und Leiterin der Thurgauischen Zentralstelle für weibliche Berufsberatung, Anna Walder (1894–1986), hielt an diesem Anlass ein Referat, in dem sie den Pflegekinderbegriff umriss, auf die Grundlagen des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs und die Pflegekinderverordnungen der Kantone Aargau, Basel-Stadt, Waadt und Zürich einging.207 In ihrer Einleitung berief sie sich auf die Volkszählung aus dem Jahr 1920, wonach 50 023 Kinder unter 16 Jahren in 42 459 Familien fremdplatziert wurden, darunter 1398 Thurgauer Kinder. Sie kritisierte die mangelnde Aufsicht über die Pflegekinder und befand: «Es ist sehr zu bedauern, dass das Z.G.B die Regelung des Pflegekinderwesens nicht vorgesehen hat und es deshalb den Kantonen ganz überlassen bleibt, diese Lücke durch eine Spezialgesetzgebung auszufüllen oder aber, was noch häufiger ist – diese Lücke offen zu lassen.»208 Im Zusammenhang mit dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch beanstandete sie auch die im thurgauischen Einführungsgesetz angedeutete Schaffung von Amtsvormundschaften, denen «vielerorts (jedoch nicht in unserm Kanton) auch die Aufsicht über die Pflegekinder zugewiesen wurde. Die Institution der Amtsvormundschaften hat in unserem Kanton jedoch noch so wenig Fortschritte gemacht, dass sie bis jetzt nicht in der Lage war, der Bevölkerung zu zeigen, wie segensreich sie wirken kann, wenn sie ihre Aufgabe im Sinne einer neuzeitlichen Jugendfürsorge erfasst.»209 Diese Lücke füllten ihrer Meinung nach der Thurgauische Armenerziehungsverein sowie das Thurgauische Frauensekretariat nur ansatzweise aus, da ihnen nicht sämtliche Pflegekinder überantwortet würden. Als Lösung schlug Walder vor, dass das Pflegekinderwesen dem Vormundschaftsdepartement unterstellt werden solle, und verlangte eine kantonale gesetzliche Grundlage hierfür. Und ferner forderte sie, dass die direkte Aufsicht durch ortsansässige Vertrauenspersonen durchgeführt werden solle: «Diese Dezentralisation ist für diese spezielle Aufgabe ganz besonders am Platz, da es auf diese Weise am ehesten möglich ist, die Pflegeorte richtig kennen und beurteilen zu lernen und die Kinder nicht bloss bei Kontrollbesuchen, sondern auch sonst ganz unauffällig im Auge zu behalten.»210

      Neben den lokalen Vertrauensleuten schlug sie eine – analog der Aargauer Pflegekinderverordnung von 1922 – bezirksweise Berufung von Aufsichtsorganen auf Stufe Bezirksamt vor, die als Kontrollorgane Amtsvormünder einsetzen sollten. Wie in der Aargauer Bestimmung auch, sollten die Pflegekinder des thurgauischen Armenerziehungsvereins von dieser Kontrolle ausgenommen werden.211 Die Versammlung erachtete es als wichtig, mittels einer Enquête das Bedürfnis nach einer gewünschten Kontrolle nachzuweisen. In diesem Sinn richteten Walder und Staehelin ein Schreiben an den Vorsteher des Gesundheitsdepartements Albert Leutenegger (1873–1936), worin gebeten wurde, dass die Ortsvorsteherschaften alle fremdplatzierten Kinder bis zum 15. Altersjahr ermitteln sollten. In der Anlage übermachten sie dem Regierungsrat auch das Referat, zu dem sie bemerkten, dass die organisatorische Verankerung des Pflegekinderwesens am ehesten in die Zuständigkeit des Departements für das Vormundschaftswesen fallen solle und sie dankbar wären, wenn im Anschluss an die Verordnung für Tuberkulosefürsorge auch die Pflegekinderaufsicht geregelt würde.212

      Bei der Delegiertenversammlung im November desselben Jahres erschien der Vorsteher des Zürcher Jugendamts Robert Briner (1885–1960) als Gastreferent und orientierte den Bund über die «Notwendigkeit eines Pflegekinderschutzes», da auch im Thurgau zwischen 1000 und 1100 Kinder unter 14 Jahren fremdplatziert seien. Er schlug vor, dass im Zusammenhang mit der Schaffung des kantonalen Einführungsgesetzes zum eidgenössischen Tuberkulosegesetz (vom 13. Juni 1928) diesbezügliche Anstrengungen unternommen werden könnten.213 Die anschliessende Diskussion der Delegiertenversammlung mündete in eine Resolution an die Kantonsregierung, worin die Schaffung von gesetzlichen Grundlagen «mit allen Kräften» empfohlen wurden: «Sie ersucht die hohe Regierung, die diesbezüglichen Bestrebungen zu unterstützen und zu fördern, vor allem durch die Schaffung gesetzlicher Grundlagen.»214 Am 3. September 1930 wurde eine zweite Sitzung abgehalten, an der neben den Delegierten des Bundes Thurgauischer Frauenvereine auch der Armenerziehungsverein und weitere Vertreter zugegen waren. Dem Vorsteher des Gesundheitsdepartements wurde dasselbe Anliegen nochmals unterbreitet und die Hilfe «bei der praktischen Durchführung der Aufgabe» sämtlicher anwesender Vereine und Institutionen zugesichert.215 Ins Rollen brachte die Sache aber erst der Kantonsarzt Otto Isler mit seinem Artikel in der «Thurgauer Zeitung» über die Einführung des Tuberkulosegesetzes im Kanton Thurgau. Er gab zu bedenken, dass im «Thurgau allein zirka 1300» Pflegekinder existierten und nur ein kleiner Teil durch den thurgauischen Armenerziehungsverein oder die Frauenvereine betreut würde. Insofern könne man die «Klagen der Frauenvereine, welche mit den Verhältnissen vertraut sind, begreifen». Neben «zugestandenermassen vielen sehr guten Pflegeorten, an denen die Kinder wie die eigenen gehalten werden», existierten aber auch «eine Menge schlechter Versorgungen mit Quälereien, Hungerleiden, Missachtung der primitivsten hygienischen Regeln, moralischer Gefährdung und anderes».216

      Als Gewinn erachtete er im Tuberkulosegesetz, dass das «Halten von Pflegekindern» in jedem Fall an eine behördliche Bewilligung geknüpft sei und die Pflegekinder bei der Übergabe an eine Pflegefamilie ärztlich untersucht und behördlich beaufsichtigt und bei Gefährdung unter Mitwirkung der Vormundschaftsbehörde versetzt würden.217 Als Mangel betrachtete er den Umstand, dass «Zwangshospitalisierungen» unzulässig seien, besonders aber im Fall einer schwerkranken Mutter, «welche eine ganze Schar kleiner Kinder um sich herum hat und sie alle» gefährde, dies «doch das einzig richtige wäre. Wollte man in einem solchen Fall streng vorgehen, so müsste man der Familie die gefährdeten Kinder wegnehmen und sie irgendwo versorgen.»218 Hauptbestimmung des am 27. Januar 1931 verabschiedeten Tuberkulosegesetzes war, dass der Bund, der Kanton und die Gemeinden «unter Mitwirkung der privaten Vereins- und Fürsorgetätigkeit die nötigen Massnahmen» ergreifen müssten.219 Indem ebenfalls an die private Wohltätigkeit gedacht wurde, wurden auch Bestimmungen über die «Platzierung» von Pflegekindern aufgenommen: «Nicht-tuberkulöse Kinder dürfen nur in Haushaltungen untergebracht werden, wo keine tuberkulösen sie gefährden; tuberkulöse Kinder wiederum dürfen nicht in Haushaltungen kommen, wo sich nicht tuberkulöse Kinder befinden.»220 Daran geknüpft war auch die Anerkennung von Pflegeorten für Pflegekinder bis zum 14. Altersjahr. Kantonale Meldestelle war das Sanitätsdepartement, ihr angegliedert waren die kommunalen Gesundheitskommissionen, denen die «Anerkennung von Pflegeorten für Pflegekinder und deren Überwachung bis zum vollendeten vierzehnten Altersjahr» überantwortet wurde.221

      Die Schülerin der Sozialen Frauenschule Elsa Gsell nahm dann auch den Artikel als Aufhänger für ein Schreiben an Regierungsrat Leutenegger, in dem sie die Bitte vortrug, «ob Sie nicht die Freundlichkeit hätten, diese Umfrage demnächst zu lanzieren. Wenn meine Mithülfe hiezu erforderlich ist, stelle ich mich gerne zu Ihrer Verfügung.»222 Die Enquête sollte in statistischer Hinsicht wichtige Erkenntnisse liefern, die auch dem Sanitätsdepartement von Nutzen wären. Nach einer persönlichen Unterredung mit dem Regierungsrat wurden die kommunalen Gesundheitskommissionen mit Fragebogen eingedeckt.223 Die Enquête wurde im Oktober und November 1931 durchgeführt, und Gsell evaluierte sie in ihrer Diplomarbeit, die vom Kantonsarzt Isler an sämtliche Gesundheitsbehörden, Waisen- und Pfarrämter sowie Lehrer versandt wurde. Isler betonte, dass die Pflegekinderzahl im Kanton «sehr gross» sei, «und ihre Unterbringung lässt an vielen Orten viel zu wünschen übrig». Darüber hinaus stellte er in Aussicht, dass das Sanitätsdepartement «in nächster Zeit eine Pflegekinderverordnung» ausarbeiten wolle, die den Behörden als Wegleitung dienen solle.224 Die Pflegekinderverordnung kam jedoch erst 1946 zustande.

      Gsell resümierte in ihrer Arbeit, dass insbesondere die thurgauischen Amtsvormundschaften ihre Aufgabe noch nicht vollumfänglich wahrnahmen, um «ihre Tätigkeit im Sinne neuzeitlicher Jugendfürsorge auszubauen».225 Die Enquête führte vor Augen, dass rund die Hälfte aller Pflegekinderverhältnisse auf Initiative der leiblichen Eltern stattfand. Vereine und Jugendämter kamen hingegen nur für 17 Prozent der Fremdplatzierungen finanziell auf. Den Vorstand beschäftigte vielmehr ein Postulat aus Zeiten der Einführung des Tuberkulosegesetzes,