der Pflicht der Armenpflegen. Der Vorstand präzisiert hierbei, dass diese Unterstützungen selbst von wohlhabenden Gemeinden nur unzureichend seien und die freiwillige Wohltätigkeit ebenfalls unterstützend eingreife, wobei «die Verarmung» in vielen Fällen «auf eignem Verschulden, auf Mangel an Arbeitslust, Sparsamkeit, bösen Gewohnheiten, Berufsunfähigkeit u. dgl.» beruhe.98
Der Vorstand unterliess es gegenüber der Kantonsregierung, diese geforderte Witwenunterstützung formell auszuschlagen, und zitierte stattdessen den Vereinszweck: «Der Armenerziehungsverein hat seit seiner Gründung stets den Zweck, der ihm den Namen gab, verfolgt, arme Kinder zu versorgen, zu bekleiden und unter seiner Aufsicht zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft erziehen zu lassen.»99 Als ein weiterer Grund wurde aufgeführt, dass bis vor einigen Jahren die Mittel nicht einmal gereicht hätten, sämtlichen von den Gemeinden eingehenden Gesuchen nachzukommen.100 Somit sei es illusorisch, «die Bedürfnisse der Familienunterstützung, welche den Gemeinden obliegt, zum grossen Teil zu bestreiten».101 Ein zusätzliches Argument gegen die Familienunterstützung von Seiten des Armenerziehungsvereins sah der Vorstand darin, dass Eltern, die ohne Probleme einer Fremdplatzierung zugestimmt hätten, nun «sich beharrlich bemühen würden, die Kinder zu behalten und sich dafür vom Armenerziehungsverein das Kostgeld bezahlen zu lassen».102
Dies sei aber nicht im Sinn der Vereinsgründer, die keine «allgemeine kantonale Armenkasse» schaffen wollten, «so wäre dem Verein der Name ‹Armen-Unterstützungsverein› statt ‹Armen-Erziehungsverein› gegeben worden».103 Hinzu käme bei der Familienunterstützung, dass den Eltern im Voraus ja de facto die Fähigkeit der Kindererziehung zugestanden würde und somit der Armenerziehungsverein keine Entscheidungshoheit für sich beanspruchen könne. Die Eltern würden sich «dessen bewusst, kaum an die Anordnungen und die Befehle der Vereinsorgane kehren, sondern diese durch passiven Widerstand zu ermüden suchen».104 Der Kantonalvorstand kam aus diesen Gründen zur Ansicht, den bereits eingeschlagenen Weg der Fremdplatzierung nicht zu verlassen und die Familienunterstützung nicht zu fördern. Vermisste der Vereinsvorstand bei manchen Armenpflegen eine konstruktive Zusammenarbeit, so sprach er der Polizeidirektion mehrfach den Dank aus, flüchtige Pflegekinder wieder ihren Pflegehäusern zuzuführen: «Es handelt sich dabei übrigens fast ausnahmslos um ältere Zöglinge, welche sich keiner Ordnung fügen wollen, ihren Platz eigenmächtig verliessen oder von unverständigen Anverwandten oder andern Leuten hiezu angestiftet wurden.»105
Während der Weltwirtschaftskrise stellte sich der Vorstand des Armenerziehungsvereins die Frage, ob die rückläufige Pflegekinderzahl auf die «Grundlagen oder die Organisation» des Vereins zurückzuführen sei. Er verneinte die Frage, denn «gerade in den heutigen schweren Zeiten wollen wir an unserm Grundsatze erst recht festhalten, die uns anvertrauten Zöglinge seelisch und beruflich nach Kräften zu fördern, um sie als tüchtige Menschen ins Leben hinaustreten zu lassen.» Der Vorstand wolle nicht alles der Krise zuschreiben, doch seien «die Zeitumstände» wohl tatsächlich die Hauptursache des Pflegekinderrückgangs. Die finanziellen Engpässe drängten viele kommunalen Armenbehörden dazu, «nicht die beste, sondern die billigste Unterbringung der versorgungsbedürftigen Kinder zu verfügen und sich aus Mangel an Mitteln viel grössere Zurückhaltung aufzuerlegen». Der Verein seinerseits könne keinen Einfluss auf die Pflegekinderzahl nehmen, «er nimmt nur die Kinder auf, die von den Versorgern bei ihm angemeldet werden.»106
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Armenerziehungsverein über anstehende Veränderungen diskutiert. Im August 1945 kam ein möglicher Verkauf des Schillingsrainguts an den Landwirtschaftlichen Verein Baselland zur Sprache. Der Kantonalvorstand sollte nun zu diesem Gesuch Stellung nehmen. Falls dieses abgewiesen würde, müsse ein Beschluss über einen notwendigen Um- und Ausbau des Anstaltsgebäudes gefasst werden. Als Erster ergriff Regierungsrat Leo Mann (1890–1958) das Wort und hielt das Anstaltsgebäude für ein «gesundes», das nur neuzeitlich umgebaut werden müsse. «Vom Standpunkt des AEV aus ist das Haus nicht aufzugeben.» Der Umbau solle in einem Zug erfolgen, und die Finanzierung stelle keine Schwierigkeiten dar, wie der Regierungsrat befand. «Ein Beitrag kann im Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogramms geleistet werden. Der Reg.- Rat wartet nur auf den Entscheid des A.E.V. um die Angelegenheit dem Landrat vorzulegen.» Im Anschluss wurde das Gesuch nochmals verlesen und festgestellt, dass es «zahm» sei und überhaupt keine Angaben über eine angemessene Kompensation beinhalte. Der damalige Hausvater des Schillingsrains sprach sich ebenfalls für die Erhaltung der Anstalt auf dem angestammten Platz aus, zumal der Boden sehr fruchtbar sei und die verkehrsgünstige Lage in der Nähe Liestals einen Standortvorteil bedeute. Das im Vorfeld eingeholte Gutachten der Jugendanwaltschaft der Stadt Bern bezeichnete den Schillingsrain als ein mit allen Vorzügen ausgestattetes Erziehungsheim, allerdings mit einigen baulichen Mängeln.107 Diese seien aber durch den geplanten Umbau aufzulösen, weshalb einstimmig beschlossen wurde, den Schillingsrain nicht zu verkaufen.108 Der Pflegekinderskandal in Frutigen warf auch im Armenerziehungsverein in Basel-Landschaft seine Wellen. Der Vorstand bemerkte, dass solche Ereignisse in «weiten Kreisen Misstrauen gegen das Pflegekinderwesen» weckten und die Gefahr bestehe, dass man «in falscher Verallgemeinerung alle Pflegeeltern als unfähig und der Liebe bloss, alle Fürsorger und Inspektoren als ihrer Aufgabe nicht gewachsen taxiert»:109
«Niemand weiss besser um die Not, in die ein Kind gerät, wenn es aus irgendwelchen Gründen ohne eigene Eltern aufwachsen muss, als gerade die leitenden Instanzen des AEV. Wir wissen, dass auch die Placierung eines benachteiligten Kindes in eine gute Pflegefamilie nur ein ungenügender Ersatz ist für die eigenen Eltern, wenn diese fähig sind, ihren Kindern Liebe und gute Leitung zu geben.»110
Nachdem im Jahr 1958 die Namensänderung von Seiten zweier Reallehrer aus Pratteln erneut vorgeschlagen wurde, 111 besprach der Kantonalvorstand diesen Vorstoss. Er war der Ansicht, dass man den traditionell verankerten Namen keiner «Modeströmung zuliebe» opfern wolle, und stimmte rein informell ab.112 1962 erfolgte im Zusammenhang mit der bevorstehenden Totalrevision des Einführungsgesetzes zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch eine Standortbestimmung des Armenerziehungsvereins. Inspektor Kurt Lüthy schlug den Verkauf des Schillingrains vor, durch den Erlös sollte ein Heimneubau ermöglicht werden. Durch die Gewinnausschüttung würde der Armenerziehungsverein befähigt, eine Familienfürsorgestelle aufzubauen, deren Namen «Birmann-Stiftung» sein sollte – so «wäre auch die Namensfrage gelöst». Wie sich herausstellte, verlangte jedoch der Regierungsrat die Bezeichnung «Jugendsekretariat», womit sich der Armenerziehungsverein nicht anfreunden konnte und vorerst die Pflegekinderbetreuung noch unter dem «Inspektorat des AEV arbeiten liess».113
Bereits 1964 konnte allerdings das zuvor angedachte Szenario umgesetzt werden. Die organisatorische Umstellung und insbesondere die Namensanpassung sei schon seit einigen Jahren überfällig, «weil immer wieder von Seiten der Schützlinge Klagen laut wurden, dass sie unter diesem Namen, Kinder des Armenerziehungsvereins zu sein, von der Umgebung leiden mussten».114 Die Organisationsanpassung wurde so umgesetzt, dass der Armenerziehungsverein als Trägerverein bestehen blieb, das Tagesgeschäft allerdings der «Birmann-Stiftung» übergeben wurde: «Zum Zeichen, dass mit dieser Stiftung nur gegen aussen eine neue Stelle in Erscheinung tritt, innerlich aber der Armenerziehungsverein da ist, ist der Engere Vorstand des Armenerziehungsvereins zugleich Stiftungsrat. Der Armenerziehungsverein bleibt also, die ausführende Hand hat einen neuen Namen erhalten.»115
Die Bezirks-Armenerziehungsvereine des Kantons Aargau
An der Sitzung der Gesellschaft für vaterländische Kultur des Bezirks Aarau (der späteren Kulturgesellschaft) vom 22. August 1854 wurde die Situation armer Jugendlicher besprochen. Das Gesellschaftsmitglied Pfarrer Emil Jakob Friedrich Zschokke (1808–1889), 116 der aus dem Kanton Basel-Landschaft 1845 über Kulm in die Stadtkirche Aarau berufen wurde, brachte nach dem Vorbild des Basellandschaftlichen Vereins die Idee der Armenerziehungsvereine mit in den Aargau.117 In der Sitzung war ursprünglich nur von der «Bildung und Erziehung der armen weiblichen Jugend» die Rede, die mittels Kreisschreiben an sämtliche Kulturgesellschaften nähergebracht werden sollte.118 Auf die nächste Generalversammlung am 20. September 1854 sollte das Thema von Zschokke und Postdirektor